Als in den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Sexualkundeunterricht Pflicht wurde, stemmten sich katholische und konservative Kreise gegen diese Regelung und verkündeten den drohenden Untergang des Abendlandes. Davor noch setzten menschenfreundliche Bemühungen ein, den Rassismus abzuschaffen, der bisweilen als gottgegebenes Recht interpretiert wurde und der auch heute noch lange nicht restlos aus den Köpfen der Menschen verschwunden ist. Anfang des gleichen Jahrhunderts kam die Frauenbewegung langsam ins Rollen, die unerhörterweise für die Frauen die gleichen Rechte wie die der Männer einforderte und schließlich auch halbwegs durchsetzte. Kirchliche und konservative Kreise stemmten sich dagegen und beschworen den drohenden Untergang des Abendlandes herauf. Noch weiter davor, im Jahre 1865, wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Sezessionskrieg die Sklaverei abgeschafft, aber zusammen mit dem damit verbundenen Rassismus hielt sich die zugehörige Mentalität noch viele Generationen lang. Einer der Gründe für diesen Krieg war, dass die Südstaaten die in ihnen herrschende Sklaverei nicht abschaffen wollten. Diese Südstaaten bilden heute interessanterweise den sogenannten Bible Belt, den Teil der USA, in dem religiöse und konservative Werte ganz besonders hoch gehalten werden und in dem gleichzeitig der Anteil der Abtreibungen, Teenagerschwangerschaften und Ehescheidungen ganz besonders hoch ist und die sich am vehementesten gegen die Gleichberechtigung von Homosexuellen und anderen „Abweichlern“ einsetzen und in diesem Zusammenhang davon reden, dass sie dadurch in ihrer Religionsausübung beeinträchtigt und sie als Christen verfolgt würden. In diesen Staaten gibt es mittlerweile auch ein Phänomen, das die Amerikaner als Brain Drain bezeichnen, die Abwanderung von Menschen mit Können, Ideen und Fantasie in weniger repressive Bundesstaaten, in denen sie und ihre Kinder sich freier entfalten können.
Das Muster ist immer das gleiche: Fundamentalistisch-religiöse und konservative bis faschistische Kreise wenden sich gegen jegliche soziale Evolution und wollen gesellschaftliche Veränderungen unterbinden. Die Demonstrationen und Unruhen gegen die Öffnung der Ehe in Frankreich im Jahre 2013 gingen von diesen Kreisen im Zusammenspiel aus. Und der Aufruhr in Deutschland gegen ein geplantes Update für den baden-württembergischen Bildungsplan erfährt aus ähnlichen Kreisen Unterstützung. Und überall auf der Welt, wo der LGBTI-Gemeinde das Leben schwer gemacht oder es gar kriminalisiert wird, stehen Religion und Konservativismus dahinter, auch im ehemals kommunistischen Russland.
Es gibt also global betrachtet einen Kulturkampf zwischen religiös-konservativen Kreisen auf der einen Seite und fortschrittlichen Kreisen und Menschen, die sich einfach unbeeinträchtigt entfalten wollen, auf der anderen Seite. Dieser Kulturkampf wird zur Zeit am sichtbarsten, im Kampf um eine rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Homosexuellen und entzündet sich gerne am Begriff des Gender Mainstreaming, der dann im Extremfall als Maßnahme zur „Zwangsumerziehung“ dargestellt wird, was mit der Realität offensichtlich nichts zu tun hat, eher im Gegenteil. Dieser Ausdruck des Gender Mainstreaming beschreibt einen globalen Aktionsplan der Vereinten Nationen.
Die Wikipedia schreibt dazu: „Konkret bedeutet Gender Mainstreaming nach der Definition der Vereinten Nationen, bei jeder staatlichen Aktion grundsätzlich auch die geschlechtsspezifischen Folgen abzuschätzen und zu bewerten. Die Strategie zielt auf eine Gleichstellung der Geschlechter in allen gesellschaftlichen Bereichen; dem Fortbestehen von Geschlechterungleichheit soll auf diese Weise entgegengewirkt werden.“
Auslöser für diese Aktion, aber nicht ihr alleiniger Inhalt, ist die in vielen Ländern weiterhin bestehende, gravierende Ungleichheit in der rechtlichen und sozialen Stellung der Frau. Aber Gleichberechtigung betrifft nicht – wie bisher – nur die Frauen, sondern auch die Männer. Und da eine demokratische Institution zur Gleichbehandlung aller Menschen verpflichtet ist, wurden neben den Männern auch die Lebensformen in die Definition miteinbezogen, die nicht Teil der großen Mehrheit sind, also Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle.
Das Ziel des Gender Mainstreaming ist, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner biologischen, sozialen oder psychologischen Geschlechtszuordnung gleiche Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten bekommt, wofür ein Bewusstseinswandel nötig ist, der für jeden Menschen und jede Kultur anders vonstatten gehen wird. Ein Bewusstseins-Wandel setzt voraus, dass erst einmal ein Bewusstsein für die Problematik geschaffen wird und eine Diskussion darüber stattfindet.
Es gibt auf unserem gemeinsamen Planeten immer noch viele Länder, in denen Männer und Frauen sehr unterschiedliche Rechte und Pflichten haben, in denen Frauen in allen oder fast allen Belangen ihrem Mann untertan sein müssen und in denen dieser Zustand für die Männer ganz selbstverständlich ist. Rein rechtlich lässt sich hier durch ein paar Gesetze schnell Abhilfe schaffen, aber das bewirkt noch lange keine Änderung der gesellschaftlichen Realität. Dazu ist ein Prozess notwendig, der sich schlimmstenfalls über viele Jahrhunderte hinziehen kann.
Wenn wir etwa die Lage der Frauen hierzulande betrachten, so könnte man auf den ersten Blick meinen, dass doch alles in Ordnung sei. Aber wenn man genauer hinsieht, dann merkt man beispielsweise, dass Frauen für die gleiche Tätigkeit immer noch oft weniger verdienen als Männer. Und von der gesellschaftlichen Situation her ist es so, dass sich kaum jemals Männer ein Babyjahr gönnen, sei es, weil sie Angst haben, zum Gespött der Kollegen zu werden, weil sie Kinderbetreuung als Frauensache betrachten oder weil sie Angst um ihre Karriere haben. Gender Mainstreaming bedeutet, eine Sensibilität für solche Situationen zu entwickeln und zügig die Voraussetzungen zu schaffen, dass sich hier etwas ändern kann.
Die Menschen, die sich gegen Gender Mainstreaming wenden, das übrigens seit 1997/99 durch die Amsterdamer Verträge zur Aufgabe der Europäischen Union wurde, wenden sich, wissentlich oder unwissentlich gegen diese Entwicklung, die den Menschen gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten zur Entfaltung geben soll.
Auch was die Rechte Homosexueller betrifft, wird gerne argumentiert, dass sie doch schon gleiche Rechte haben und toleriert würden und man doch über dieses Thema nicht mehr reden bräuchte. Eigentlich wäre dieses Thema doch schon abgehakt und könnte, zusammen mit der Sichtbarkeit der LGBTI-Menschen, wieder in der Schublade verschwinden, in der es ja auch früher gut versteckt war. Und Kinder bräuchten schon gar nichts darüber zu wissen, es reicht doch, dass sie später, als LGBTI-Erwachsene, das Recht haben, so zu sein, wie sie nun mal sind, aber die Gefahr, dass sie dann „so“ sind, ist doch kleiner, wenn sie nichts darüber erfahren.
Wenn zur Zeit von Gender Mainstreaming die Rede ist, dann wird meist nicht das ganze Bild gesehen, sondern dieser eine, ganz spezielle Aspekt herausgegriffen und durch die damit verbundenen Ängste und Emotionen aufgebläht und regelrecht, etwa durch die Verwendung des Begriffes „Zwangsumerziehung“, dämonisiert. Dadurch wird Gender Mainstreaming zu einem Teil des Kulturkampfes zwischen religiös-konservativen und integrativ-zukunftsorientierten Kreisen. Und nebenbei kann man dabei auch gleich versuchen, die Rollenverteilung von Mann und Frau wieder etwas präziser zu formen und – als Fernziel – vielleicht sogar die Frau wieder zum Heimchen am Herd und zu einer fügsamen Brut- und Aufzuchtstation zu machen.
Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass der Versuch, die Rechte der Homosexuellen gering zu halten und das Bewusstsein für ihre Existenz zu beschränken und die entsprechende Bewusstseinsbildung bei Kindern und Jugendlichen zu unterbinden, kein isolierter Kampf gegen eine insignifikante Bevölkerungsgruppe ist, sondern nur die Spitze des Eisberges. Denn so, wie überall auf der Welt konservative bis faschistische Kreise mit eher fundamentalistisch orientierten religiösen Kreisen in ihrem Kampf gegen die rechtliche und soziale Gleichstellung Homosexueller vergesellschaftet sind, so sind auch deren Ideen und ihre Vorstellungen von der gesellschaftlichen Entwicklung mit ihrer Einstellung zu LGBTI-Menschen vergesellschaftet. Das bedeutet, dass Menschen, die gegen Homosexuelle sind, meist auch gegen Verhütung, Aufklärung, Abtreibung, Scheidung, vorehelichen Sex usw. sind; sie wollen die Rollen von Frau und Mann in unserer Gesellschaft festschreiben, und die extremeren von ihnen liebäugeln auch durchaus mit dem Gedanken einer Überlegenheit der weißen Rasse, auch wenn sich nach dem Desaster des 2. Weltkrieges niemand so recht traut, dieses Thema anzusprechen – das gehört zu den untersten Schichten des Eisberges. Und speziell in den USA gibt es in dieser Werte-Gesellschaft noch mindestens eine Ergänzung. Diese liegt in der christlich begründeten Anschauung, dass die Welt vor ca. 6000 Jahren von Gott innerhalb von sechs Tagen geschaffen wurde – so, wie sie heute ist, ohne Evolution, mitsamt den Millionen Jahre alten Versteinerungen und Milliarden Jahre alten Gesteinen und Licht. Und da die amerikanischen Fundamentalisten ihre Weltsicht nicht nur sehr aktiv nach Rußland und Afrika exportieren, gibt es auch in Europa schon Versuche, die Evolutionstheorie im Biologie-Unterricht zu streichen oder gar durch die biblische Schöpfungslehre zu ersetzen. All diese Ansichten und Haltungen sind miteinander verknüpft und bilden einen konservativ-religiösen Werte-Kanon, der auch auf den höheren Ebenen des Klerus Unterstützung findet und der die Grundlage für den sich ausweitenden Kulturkampf bildet.
Da sich in den westlichen Industrienationen dieser Kulturkampf im Moment im Umgang mit der Situation Homosexueller ausdrückt, muss man sich mit der gegenwärtigen Situation und ihren Hintergründen befassen, um zu einem umfassenden gesellschaftlichen Konsens zu gelangen. Und wenn es gelingt, diese Spitze des Eisbergs abzuschmelzen, stehen die Chancen gut, dass sich der gesamte Eisberg schnell auflösen lässt und die gesellschaftliche Gleichberechtigung aller Menschen zu einer nicht prekären sondern festgeschriebenen Realität wird.
Wichtiger Bestandteil dieses Kulturkampfes ist die Diskussionskultur. Eine fruchtbare Diskussion kann nur geführt werden, wenn man sich auf das Thema beschränkt, zuhört, sich selbst und anderen gegenüber ehrlich ist, die Fähigkeit hat, andere Argumente inhaltlich umfassend zu verstehen, sachlich bleibt und Herr über seine Ängste ist. Und eine gute Diskussionskultur muss ergebnisoffen sein. Da sich in der gegenwärtigen Diskussion über die Homosexualität viele Dinge austragen und miteinander vermischt werden, ist die Diskussion naturgemäß chaotisch und unbefriedigend.
Das fängt damit an, dass die Basis, auf der diskutiert wird, nicht hinreichend geklärt ist. Wir haben hier in der Diskussion zwei bis drei verschiedene Grundlagen, die großteils schon mal vor langer Zeit diskutiert wurden und die wohl von Neuem aufgegriffen werden müssen, weil sie offensichtlich noch nicht hinreichend geklärt oder im Bewusstsein der Teilnehmer nicht wirklich präsent sind. Es geht hier um die Grundlage von Staat und Gesellschaft.
In der Theorie sind fast alle westlichen Staaten säkulare bis laizistische und demokratische Gebilde, was bedeutet, dass Staat und Religion mehr oder weniger stark voneinander getrennt sind. Aber eine konsequente und absolute Laizität hat sich bisher in der Praxis kaum verwirklichen lassen. Das Verhältnis von Staat und Religion ist also nicht so klar, wie es sein sollte. Da die Debatte aber stark religiöse Anklänge hat, muss wohl erst einmal das Gesellschaftsmodell geklärt werden, das der Diskussion zugrunde liegt, womit wir uns mitten in den unterschwelligen Bereichen des Kulturkampfes befinden.
Als die entstehenden USA die Trennung von Staat und Kirche in ihre Verfassung schrieben, geschah dies sicher nicht willkürlich, sondern aus einer Notwendigkeit heraus, die darin bestand, dass sie zur damaligen Zeit der einzige Staat auf der Erde waren, der in nennenswerter Anzahl Mitglieder fast aller Religionen beherbergte. Von diesen war das Christentum zwar am stärksten vertreten, aber durch die Aufsplitterung in viele Sekten in sich gespalten. Egal welche Unterreligion den Vorzug bekommen hätte, sei es als anerkannter Einflussfaktor oder als Staatsreligion, sie hätte nie die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert. Da der Staat aber nicht den Religionen verpflichtet ist, sondern den Menschen, wurde damals beschlossen, dass der Staat nicht zum Handlanger der Religionen werden durfte und umgekehrt auch die Religionen unbeeinflusst vom Staat und anderen Religionen leben können sollten.
Diese Entscheidung wurde überall auf der Welt von den sich sukzessive bildenden demokratischen Staaten übernommen, auch unter dem Einfluss der Wissenschaft, die immer mehr im Gegensatz zur Religion stand und sich zunehmend von deren Beschränkungen (siehe Galileo) lösen konnte. Da der Staat dem Einzelnen und seiner freien Entfaltung und damit auch der Gesellschaft verpflichtet ist, bildet er die zentrale Grundlage für die Diskussion über die Homosexualität und auch über unsere zukünftige kulturelle Entwicklung. Grundlage für das Wirken des Staates sind im Wesentlichen die Menschenrechte, die in ihrer Formulierung eng mit dem Humanismus verbunden sind und den Menschen unter anderem gleiche Rechte und die Freiheit der persönlichen Entfaltung gewähren. Diskussionsgrundlage für den Staat ist von seiner Natur und Aufgabe her die Ergebnisoffenheit, denn er muss mit der Bevölkerung mitwachsen und sich auf alle Eventualitäten, die sein Wirken moderieren könnten, einstellen können. Das trifft zumindest für Demokratien zu; in dem Maße, in dem er ergebnisfixiert diskutiert und wirkt und seinen Bürgern Vorschriften macht, wird er zunehmend totalitaristisch.
Der zweite Einflussfaktor, der in der Diskussion wirkt und Anspruch auf die Diskussionsbasis erhebt, ist die Religion. Doch wenn man von der Religion spricht, macht man es sich etwas einfach, denn wenn man ein wenig genauer hinsieht, merkt man, dass man eigentlich von Religionen sprechen müsste und von den Sektionen, in die diese zerfallen. Diese Religionen haben keine einheitliche Stimme, weil sie alle marginal bis fundamental verschiedene Weltanschauungen haben und untereinander uneins sind, selbst innerhalb einer Religionsgruppe, die sich auf den gleichen Schrifttext bezieht, weil dieser Text nicht eindeutig ist und deshalb unterschiedlich interpretiert wird. Und selbst innerhalb einer Konfession gibt es Deutungs- und Schwerpunktunterschiede. Zwar gibt es in der Haltung zur Homosexualität selbst nur wenig Unterschiede, aber trotzdem ergibt sich noch ein Spektrum, das von Akzeptanz über Toleranz bis zur hasserfüllten Ablehnung reicht.
Bei der Betrachtung der Relevanz des religiösen Standpunktes kommt noch hinzu, dass die Frage der Vertretungsfähigkeit der Menschen durch die Religion und ihre Vertretung und Organisation gerne ausgeklammert wird. Die oberen Ränge des jeweiligen Klerus reklamieren für sich die Deutungshoheit für die Schriften und den Führungsanspruch für die Schäfchen, aber sie handeln genau genommen aus einer selbsterteilten Vollmacht heraus. Sie sind von ihren Schäfchen nie dafür legitimiert worden, in ihrem Namen eine Diskussion zu führen – und diese Schäfchen sind auch nicht aus eigener Entscheidung Mitglied in der jeweiligen Religion, sondern weil ihre Eltern das so gewollt oder auch nur hingenommen haben. Die Zahl von Menschen, die freiwillig, aus eigener Entscheidung eine bestimmte Religion angenommen haben und auf die sich die Religionshierarchie eventuell tatsächlich stützen könnte, ist verschwindend gering. Hinzu kommt, dass viele Menschen, die nominell einer Religion angehören, in vielen Bereichen etwa was Homosexualität, Scheidung, außerehelichem Sex oder anderes betrifft, ganz andere Anschauungen haben als die oberen Etagen.
Zu all dem kommt dann noch hinzu, dass etwa in Deutschland mittlerweile etwa ein Drittel der Bevölkerung keiner Religion angehören und von denen, die einer Religion angehören, fühlen sich nur wenige mit ihr verbunden, so dass sie sich, von der fehlenden demokratischen Legitimation abgesehen, auf weniger als die Hälfte der Bevölkerung stützen kann. Und doch möchte sie Regeln für alle aufstellen – für ihre nicht so religiösen Mitglieder, für Angehörige anderer Religionen und Konfessionen und für die vielen Menschen, die keiner Religion angehören.
Was nun das Diskussionsverhalten der Religion angeht, so ist dies naturgemäß ergebnisfixiert. Jede Religion hat für alle möglichen Fragen einen bestimmten Wertkanon von dem sie nicht abweichen kann und der darum mit dem Hinweis auf den göttlichen Willen im Wesentlichen unverändert durchgesetzt werden muss. Zwar sind in der Regel vor Gott alle Menschen gleich, aber religionsgemäß nicht frei, sondern Gottes Willen unterworfen, der allerdings von Religion zu Religion unterschiedlich ausfällt. Da Religionen bislang nicht evolutiv sind und keine Entwicklungsmöglichkeiten haben, driften die oft uralten Weltbilder und die sich entwickelnde moderne Gesellschaft immer weiter auseinander, und darum kann eine Grundsatzdiskussion mit einer Religion als Basis nur dann einvernehmlich enden, wenn dem religiösen Standpunkt zugestimmt wird.
Zwischen diesen beiden Polen von Staat und Religion gibt es als dritte Basis die Gesellschaft, in der sich der Konflikt zwischen dem Absolutheitsanspruch der Religion und dem Mandat des Staates austrägt und die Diskussion stattfindet. Die Gesellschaft setzt sich aus der Gesamtheit der Individuen zusammen und definiert sich über die Traditionen und den neuen Modebegriff der Leitkultur. Jedes Individuum hat seine eigenen Wünsche und Vorstellungen von seinem Leben, ist aber nicht wirklich frei, diese auszudrücken, denn er lebt nicht in einer Gesellschaft, die für die freie Entfaltung des Individuums optimiert ist, sondern ist in seinem Wachstum ab seiner Geburt diesen Traditionen und dieser Leitkultur ausgesetzt und wird in seinem Denken zunehmend von ihnen geprägt, gerät aber auch durch seinen eigenen Basischarakter, der sich um Selbstausdruck und Dominanz bemüht, mehr oder weniger stark in Konflikt mit Staat, Leitkultur und Religion. Je stärker ein Mensch seine Individualität entwickelt, desto stärker wird er sich auch von dieser Troika emanzipieren wollen. Das sind dann die Freigeister und Revolutionäre, die den Konformitätsdruck der Troika besonders stark spüren. Da sich das Gesamtgebilde durch diese Freigeister bedroht sieht, versucht man, den Menschen eher dumm zu halten, wobei sich das Wort „dumm“ nicht auf die wissenschaftliche Ausbildung bezieht, sondern auf Individualisierung, Persönlichkeitsentfaltung und Kritikfähigkeit. Das ist die gesellschaftliche Realität und deswegen wird in der schulischen Wissensvermittlung zwar Wert auf wissenschaftliche, kaufmännische und sprachliche Aspekte gelegt, aber nicht auf philosophische, politische, soziale und musische. In diesen Bereichen gibt es keinen klaren gesellschaftlichen Konsens.
Der Staat befindet sich hier in einer Zwickmühle. Zum einen hat er klar den Auftrag, die freie Entfaltung der Gesellschaft zu fördern und für die Grundlagen für das Wohlergehen seiner Bürger zu sorgen. Voll entfaltete, selbstbewusste Menschen würden also seinem Auftrag entsprechen. Aber diese Menschen würden auch am ehesten dazu neigen, ihn zu reformieren, wovor ihn sein Selbsterhaltungstrieb schützen möchte. Zum anderen hat er Angst vor der Macht der Religion, der in sich freie und umfassend gebildete Menschen noch viel suspekter sind, weil sie über diese kaum Macht ausüben kann und unterzugehen droht. Und dann muss er auch noch die Gesellschaft mit ihrer „Leitkultur“ berücksichtigen.
Wenn er sich also mit Gender Mainstreaming im Allgemeinen und der Homosexualität und der sexuellen Vielfalt im Besonderen befasst, dann weil er sich der gesellschaftlichen Realität und den wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht dauerhaft verschließen kann. Da dies das Weltbild der Religionen wieder einmal heftig erschüttert, versuchen diese, ihren verbliebenen Einfluss geltend zu machen, um das erweiterte Wissen um die sexuelle Natur und Vielfalt möglichst lange verborgen zu halten. Und die Gesellschaft, deren Aufwachsen und Erziehung noch stärker lustfeindlich und religiös geprägt war, möchte sich weder ganz dem Fortschritt verweigern, noch möchte sie wirklich die Zeit zurückdrehen; sie würde – in Teilen – am liebsten so bleiben, wie sie ist und argumentiert für ihr Verharren mit der sogenannten Leitkultur und Tradition.
Nur ist das mit der Leitkultur so eine Sache. Eine Kultur, und damit auch eine Leitkultur, ist keine unveränderliche Sache, noch ist es wünschenswert, dass sie unverändert bleibt. Eine Kultur, die sich nicht verändert, ist nicht mehr lebendig, sondern tot und bietet den Menschen nur noch begrenzte und unveränderliche Entwicklungsmöglichkeiten; sie macht den Menschen zu einem biologischen Roboter, der zu allem Ja und Amen sagt, weil alles immer so gewesen ist und immer so sein wird und weil er in einer solchen totalitären Kultur auch keine Entfaltungsanreize findet, sondern nur Entmutigung für alles, was von der Norm abweicht.
Aber jede Kultur ist einem steten Wandel unterworfen und durchläuft wie die biologische Natur unseres Planeten auch eine Evolution. Es gibt keine Kultur auf der Erde, die immer schon so war, wie sie jetzt ist; selbst das, was wir als Volksgruppen oder Ethnien bezeichnen, gab es nie in ursprünglicher Form. Alle Völker auf der Welt, vielleicht mit Ausnahme der australischen Aborigines, sind das Ergebnis von Invasionen, Völkerwanderungen und Handelsbeziehungen. Fast jedes heutige mitteleuropäische Volk hat Einflüsse von Kelten und mehreren anderen Ethnien erfahren, etwa von Langobarden, Alemannen, Goten, Vandalen, Hunnen… Viele Völker standen einmal oder mehrfach unter Fremdherrschaft, sei es durch die Römer, die Mauren, die Schweden oder die Franzosen gewesen, und alle Besatzer haben Elemente ihrer Kultur in den anderen Kulturen zurückgelassen. Unsere heutige Kultur ist nicht deshalb so wie sie ist, weil wir uns krampfhaft an einer Leitkultur festgehalten haben, sondern weil wir alle Einflüsse, die über Völkerwanderungen, Kriege, kulturellen Austausch, Seuchen, Hungersnöte und Erfindungen über uns gekommen sind, verarbeitet haben, und weil daraus dann etwas Neues entstanden ist. Das bedeutet nicht, dass diese Entwicklung immer gut war. Die Kelten hatten zum Beispiel eine sexuell eher offenherzige Natur, hatten wohl kein Problem mit Homosexualität, und die Frau stand bei ihnen in hohem Ansehen und konnte auch hohe Ämter bekleiden. Mit der zunehmenden Invasion von Fremdvölkern, vor allem der Römer, änderte sich das drastisch. Auch unsere mittelalterliche Badekultur war ausgesprochen freizügig und lebenslustig. Man kann sich vorstellen, dass wir heute eine wesentlich lebenslustigere und offenherzigere Gesellschaft hätten, wenn an diesem Aspekt der damaligen Leitkultur festgehalten und wenn nicht die Syphillis eingeschleppt worden wäre, welche zusammen mit der Pest die Badekultur zum Erliegen brachte und die hygienischen Verhältnisse verschlimmerte.
Eine Kultur muss sich wandeln, sich entwickeln, sonst ist sie keine Kultur mehr. Der Wandel drängt sich durch eine Vielzahl von Einflüssen, die sich in unserer heutigen Zeit enorm potenziert haben, von selbst auf, manchmal unterschwellig und nahezu fließend und gewissermaßen unbewusst, manchmal auch von Konflikten begleitet. Bislang „geschah“ dieser Wandel immer einfach so, aber er hat uns mittlerweile in eine Kommunikationsgesellschaft geführt, die bewusster ist als frühere Gesellschaften, und man muss jetzt in der Tat überlegen, ob man diesen Wandel nicht mit einer bewussten Bemühung begleiten sollte. Letztlich findet dieser Wandel in der Gesellschaft statt, nicht in der Religion, die extrem resistent gegen Veränderungen ist, und nicht im Staat, der sich ja aus der Gesellschaft ableiten und für einen Wandel stets bereit sein sollte.
Darum ist es wichtig, dass Dinge, wie das Gender Mainstreaming und die Rechte homosexueller, bisexueller, transsexueller und intersexueller Menschen schon im Vorfeld Gegenstand einer breit angelegten gesellschaftlichen Diskussion sind und Teil des öffentlichen Bewusstseins werden, damit eventuell notwendige Entscheidungen auch mit bewusster Klarheit und nicht aus unbewussten Ängsten heraus getroffen werden. Im Falle von Gender Mainstreaming und dem in diesem Zusammenhang ebenfalls angesprochenen Unterpunkt des Umgangs mit anderen Selbstidentifikationen wie Homosexualität oder Transsexualität ist dies bislang nicht geschehen. Ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel hin zu mehr Toleranz und Akzeptanz hat bereits eingesetzt, und dem Staat bleibt nichts anderes übrig, als dem Rechnung zu tragen. Dass dies im Falle der letzten konservativen Regierungen nur sehr widerwillig geschieht und diese zunehmend vom Bundesverfassungsgericht in die Richtung des Rechts getragen werden muss, ist mehr als bedauerlich – es ist beschämend für unsere demokratische Leitkultur.
Jetzt versuchen konservativ-religiöse Kreise das Rad der Zeit zurückzudrehen oder zumindest sein Drehmoment zu verlangsamen, indem sie den beginnenden gesellschaftlichen Konsens plötzlich infrage stellen und anfangen, Druck auszuüben. Also wird es wohl nötig sein, endlich über das Thema – sachlich – zu diskutieren. Die Menschen, die gegen Gender Mainstreaming sind, die also gegen die Gleichstellung und das gleiche Ansehen von Mann und Frau und gegen gleiche Rechte und gleiche gesellschaftlichen Stellung für Homosexuelle sind, und die darum auch nicht wünschen, dass über Vorurteile und Unwissen schon in der Schule, die ja auf das Leben vorbereiten soll, aufgeklärt wird, müssen darum ihre Ängste klar und deutlich formuliert auf den Tisch legen und diese idealerweise auch belegen.
Zu diesem Verfahren gibt es ein interessantes Beispiel. In Kalifornien haben im Jahre 2008 überwiegend religiöse Kräfte mit immensem finanziellem Aufwand eine eher offene Gesellschaft dazu gebracht, die einige Monate lang mögliche gleichgeschlechtliche Eheschließung mit der Propostion 8 zu untersagen. Die damit einhergehende Verfassungsänderung scheiterte letztendlich an einer Formalie 2013 vor dem Obersten Gerichtshof, praktisch aber schon 2010, als es in einer Verhandlung auch um Inhalte ging. Der damalige Richter hatte eine einfache Frage gestellt, welche die Verteidiger von Proposition 8 beantworten mussten: Welches Interesse und welchen legitimen Grund hätte Kalifornien, zwei Menschen auf Grund ihres Geschlechts die Ehe zu verweigern? In der Verhandlung wurde klargemacht, dass der Staat allen Bürgern gleiche Rechte einräumen muss. Um diese Rechte zu beschneiden, muss ein gewichtiger, rationaler Grund vorliegen, also Nachteile für den Staat oder die anderen Bürger oder für die Kinder, die durch Eheschließung in anerkannten Familien aufwachsen können. Diesen Nachweis konnten die Verteidiger nicht nur objektiv nicht erbringen, sondern die Kläger konnten darüber hinaus zeigen, dass die Zurückweisung von Proposition 8 eher vorteilhaft für alle wäre.
Da auch bei uns in Europa der Grundsatz der Gleichheit aller Bürger in den Verfassungen, bzw. im Grundgesetz verankert ist, liegt es nahe, diesen Kulturkampf, der sich im Streit um Gender Mainstreaming, um Homosexualität, Gleichberechtigung und Aufklärung ausdrückt, auch aus diesem Blickwinkel anzugehen. Die Frage lautet also: Welchen Grund haben Staat und Gesellschaft, homosexuellen Menschen die Ehe zu verweigern, sie zu benachteiligen und eine Aufklärung zu verhindern, welche ihre ungenügende Integration und Anerkennung langfristig abbauen könnte – und welchen Grund haben konservative Kreise und die Religionen, auf das Gegenteil hinzuwirken?
Fangen wir bei der Religion an und beschränken uns, da die „Leitkultur“ in Europa ja christlich ist, auf das Christentum. Die Grundlage des Christentums ist die Bibel und insbesondere das Wirken von Jesus. In der Bibel gibt es nur eine Stelle, die sich klar gegen Homosexualität wendet; diese findet sich im Buch Levitikus, das nach der Erläuterung in der ökumenischen Bibelversion für Christen nicht von Bedeutung ist, sondern nur für Priester vom Stamme Levi. Die wenigen anderen Stellen haben mit Homosexualität nur wenig zu tun. Bei der Geschichte mit Sodom ging es um eine beabsichtigte Vergewaltigung von Engeln, von Vertretern des Göttlichen und zudem um eine Missachtung des damals noch heiligen Gastrechts. Wann immer in der Bibel auf Sodom Bezug genommen wurde, ging es nie um Homosexualität. Dann gibt es noch zwei nach-christliche Stellen bei Paulus, bei denen es in einem Fall wohl um damalige Kulte ging und im anderen vermutlich um Prostitution, wobei sich das Schlüsselwort nicht wirklich übersetzen lässt, da es so ungebräuchlich ist, dass es in der griechischen Literatur der damaligen Zeit nur ein- oder zweimal auftaucht. Von Jesus selbst, in dessen Nachfolge ja das Christentum begründet wurde, gibt es zu diesem für die Kirche so überaus wichtigen Thema keine Aussage. Seine zentrale Botschaft war die Liebe zum Nächsten und die Liebe zum Göttlichen.
Was von der Kirche noch gegen die Homosexualität herangezogen wurde, ist das Naturrecht, das keine wirkliche Basis in der Bibel hat. Wenn man sich trotzdem damit auseinandersetzt, also für unser Rechts- und Gesellschaftswesen auf die Vorgänge in der Natur schaut, dann findet man zum einen ein anti-christliches Recht des Stärkeren und zum anderen eine Vielzahl von sexuellen Verhaltensweisen, inkl. Kannibalismus beim Koitus.
In den christlichen Grundlagen findet sich also nichts, was eine Ablehnung der Homosexualität und bisweilen sogar den Hass auf sie rechtfertigen würde. Und es gibt auch keinen Grund, warum die organisierte Religion ihre Haltung nicht grundlegend ändern könnte. Jesus hat sich beispielsweise nie zur Sklaverei geäußert, die in der Bibel ja häufig vorkommt. Trotzdem hat sich die christliche Kirche (ebenso wie der Islam, der Sklaverei explizit billigte) irgendwann zu einer Ablehnung der Sklaverei durchgerungen. Sie ist also in der Theorie durchaus zu einer Evolution fähig – sie muss nur lernen, zwischen christlicher Essenz auf der einen und Tradition und Praxis auf der anderen Seite zu unterscheiden und das Andere in Hinblick auf das Eine zu wandeln. Bis dahin muss sie aus zentral-christlicher Sicht erklären, weshalb sie diesen Kulturkampf anstrengt und am Leben erhält; sie muss erklären, warum sie gegen eine völlige Gleichberechtigung, Aufklärung, Verminderung von inneren Spannungen und der daraus sich ergebenden erhöhten Selbstmordneigung bei Jugendlichen ist, denn mit dieser Haltung widerspricht sie zentralen christlichen Werten. Und sie muss auch erklären, wieso ihre Religionsausübung durch gleiche Rechte gefährdet ist (was manche Christen behaupten) und weshalb sie ihre traditionellen Moralvorstellungen auch dem religionslosen Drittel der Bevölkerung und Vertretern anderer Religionen und Konfessionen aufdrängen möchte.
Die andere Position ist die rationale Position des Staates, wobei es hier nicht um die gegenwärtige Regierung geht, die dabei ist, das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche zu missachten und die auch die Bedürfnisse der Gesellschaft gerne ignoriert oder die den Staat als großes Reality-Spielfeld für Ego-Shooter- und andere Video-Spiele betrachtet, sondern um den Staat als Ideal, der dem Humanismus und der Vernunft gemäß wirken sollte, und der ab und zu durchblinzelt. Die Anpassung des Lehrplans an die Realität und die Vermittlung von mehr Verständnis sind ein solcher seltener Lichtblick, in dem sich der Staat daran erinnert, dass er allen Bürgern und auch der Evolution des Staates und der Gesellschaft verpflichtet ist. Aber von den seltenen Lichtblicken abgesehen, muss auch der Staat klären, welches Interesse – in Wahrnehmung seiner Verpflichtungen gegenüber Bürger, Gesellschaft und Staat – er daran hat, die Gleichberechtigung der Geschlechter und der sexuellen Orientierung zu hintertreiben, eine umfassende Aufklärung und einen Bewusstwerdungsprozess zu verhindern und die Sichtbarkeit der sexuellen Vielfalt zu unterbinden.
In dem Spannungsfeld zwischen dem theoretischen Idealismus des Staates und dem unbeweglichen Traditionalismus der Religion lebt die Gesellschaft, ohne die es weder Staat noch Religion gäbe und die ihrer Natur nach eher pragmatisch ist. Sie möchte sich weder von dem Einem noch dem Anderen vereinnahmen lassen, sondern einfach ihr Leben leben. Staat und Religion haben sich entwickelt, um die Möglichkeiten dazu bereitzustellen und dem frühen Menschen mit seinem tiernahen und unbedingten Egoismus Grenzen aufzuzeigen und Entwicklungslinien vorzugeben und ihn gesellschaftsfähig zu machen. Nun hat die Gesellschaft dadurch eine Evolution und einen Bewusstswerdungsprozess durchlaufen, deren Geschwindigkeit in den letzten Jahrhunderten, Jahrzehnten und sogar Jahren so rasant zugenommen hat, dass Staat und Religion um ihre Existenz bangen. Der Staat bangt, weil er um seine Existenz fürchtet, denn ab einem gewissen Bewusstwerdungsgrad, ab dem Erreichen eines Grenzwertes für gesellschaftliche Organisation und Einheit, der die Gesellschaft zu einer bewussten Entität werden lässt, scheint der Staat überflüssig zu werden. Aus dieser Existenzangst heraus, wird der Staat ein immer komplizierteres und regulierungswütigeres Gebilde, das versucht, unverzichtbar und unangreifbar zu werden, statt sich zu vereinfachen und Hilfestellung für den eigenen Abbau zu leisten. Verschwinden wird er trotzdem nicht, denn wir brauchen noch sehr lange eine gut funktionierende Verwaltung.
Beispiel für diese Regulierungswut ist die Eingetragene Partnerschaft, die einzig zu dem Zweck entwickelt wurde, der relativ kleinen Bevölkerungsgruppe der homosexuellen Menschen den Zugang zu einem rechtlichen Partnerschaftsinstitut zu gewähren, das sich aus unerfindlichen Gründen von der bereits vorhandenen Ehe unterscheiden musste. Die Folge war, dass mindestens 200 Gesetze geändert oder erlassen werden mussten oder noch müssen und dass das Bundesverfassungsgericht einer unwilligen Bundesregierung mehrmals Regelungen und Gesetze vorschreiben musste, die zu erlassen sie bisher unterlassen hatte. Da wurde ein immenser Aufwand betrieben, und dieser Aufwand muss auch in Zukunft für die Wartung dieser Gesetze getrieben werden. Dabei hätten ein paar wenige Worte, etwa „Die Ehe ist geschlechtsunabhängig“, ausgereicht, um das Thema in kürzester Zeit und ohne die Notwendigkeit von weiteren Gesetzen effizient abzuhaken. Dann hätte man sich in der vergeudeten Zeit mit anderen wichtigen Dingen beschäftigen können.
Auch die Religion bangt um ihre Existenz, aber das kommt daher, dass sie so wahrgenommen wird, wie sie sich gibt – als Schulmeister und Konkurrent um die Führung des Staates und der Gesellschaft. In den Augen der Gesellschaft beschäftigt sich die Religion mit dem Regulieren und nicht damit, nach Gott zu suchen und die Menschen zu ihm zu führen. Wenn sich die Religion auf ihren spirituellen Kern und auf die Evolution des Gottesbildes und die Erweckung der Seele besinnen würde, dann bräuchte sie auch keine Sorgen um ihren Untergang zu haben, denn die Menschen haben religiöse, seelische und spirituelle Bedürfnisse, haben aber nicht den Eindruck, damit bei der Religion an der richtigen Adresse zu sein.
Bleibt also die Frage, welches Interesse die Gesellschaft daran hat, das Vorhandensein von Homosexualität und der sexuellen Vielfalt ganz allgemein zu verbergen und den damit verbundenen Bewusstwerdungsprozess zu unterbinden. Und wenn man genau hinsieht, lautet die Antwort, dass sie kein Interesse daran hat.
Homophobie und Misstrauen gegenüber sexueller Vielfalt ist keine wirklich gesellschaftsimmanente Erscheinung, sondern etwas, das ihr aus den verschiedensten Beweggründen aufgedrängt wurde (Näheres hierzu und über die Ursachen von Homophobie und Biphobie im Buch „Sexualität – Eine Zukunft für die Zukunft“). Wie schon angedeutet, unterliegt auch die Gesellschaft einer Evolution. Frühe Gesellschaften waren geprägt von einem einfachen Welt- und Menschenbild, von dem Zwiespalt zwischen krassem Egoismus und dem Bedürfnis nach Gemeinschaft und von klaren Rollenbildern. Und frühe Gesellschaften lagen in ihrer Größe meist auch im Rahmen der Dunbarschen Zahl von 150 Mitgliedern. Das bedeutet, dass man einander kannte und ein relativ starkes Gemeinschaftsgefühl hatte und gut ohne allzu viele Regeln auskam. Als die Gesellschaften über diese Dunbarsche Zahl hinaus anwuchsen ging dieses Zusammengehörigkeitsgefühl verloren, und immer mehr Regularien wurden benötigt. In der gesellschaftlichen Evolution gibt es einen negativen Zusammenhang zwischen diesen Regularien und dem Bewusstsein. Je entwickelter und umfassender das Gemeinschaftsbewusstsein ist, desto weniger Regularien werden benötigt. Da die Gemeinschaften mittlerweile zu groß sind, um ein tiefer reichendes Gemeinschaftsbewusstsein hervorzubringen, gibt es sehr viele Regularien, zu denen Staat und Kirche gerne und ausgiebig beitragen und welche die Gesellschaft vor dem Kollaps bewahren, die aber so wenig zum Wachstum des gesellschaftlichen Bewusstseins beitragen, dass dieses immer noch in der Baby-Phase steckt und noch kein wirkliches Selbstbewusstsein entwickelt hat, das notwendig wäre, um an der eigenen Entfaltung bewusst mitzuarbeiten. Um das zu erreichen, müssen die Menschen, welche die Gesellschaft konstituieren, zu wirklichen Individuen heranreifen, die über die Bewusstseinsgrenze hinauswachsen, die von der Dunbarschen Zahl vorgegeben ist, die also ihr ihnen innewohnendes Potenzial entfalten, die in bewusste Beziehung zu ihren Mitmenschen treten und die Gesellschaft als großen Organismus wahrnehmen.
Und damit sind wir wieder mitten im Kulturkampf, der sich nicht in erster Linie um Gender Mainstreaming dreht und der nicht erst seit ein paar Jahren tobt und, sondern schon sehr viel länger. Es ist ein Kampf zwischen Monokultur und Vielfalt, zwischen Faschismus und Individualismus, zwischen geistiger Enge oder Weite, zwischen Regulierung und Freiheit, zwischen Sklaverei und Selbständigkeit, zwischen Unwissen und Wissen, zwischen Wassertomaten und Geschmacksfülle, zwischen Kapitalismus und Miteinander, zwischen Verdummung und Erleuchtung, zwischen Gegeneinander und Zusammenarbeit, zwischen Aldous Huxleys „Brave New World“ und „Island“, zwischen Hass und Liebe, zwischen Rückschritt und Wachstum, zwischen Tod und Leben…
Für das Wachstum und die Reifung des gesellschaftlichen Organismus ist es also wichtig, dass die Menschen diesen Organismus begreifen, dass sie all seine Elemente wahrnehmen und dass er die Möglichkeit erhält, frei zu wachsen. Wachstum bedeutet, dass sich Dinge ändern, dass sie ihr Potenzial entfalten, zusammenwachsen und eine immer besser funktionierende Einheit bilden.
Homosexualität und sexuelle Vielfalt wird von der Religion und von den religiös beeinflussten Teilen der Gesellschaft genauso als Störfaktor oder sogar als Krebszelle betrachtet wie etwa die Verhütung, aber nicht aus objektiven Gründen, sondern aus der, auch innerhalb dieser Fraktion nicht unumstrittenen Vermutung heraus, dass dies von Gott so gewollt sein könnte.
Und gerade bei der Verhütung ist ganz klar, dass sie eine sinnvolle Einrichtung ist, die kurz vor der Katastrophe erfunden wurde und helfen kann, diese zu verhindern. Vor der Einführung der verschiedenen Verhütungsmaßnahmen hat sich die Weltbevölkerung ungehindert vermehren können. Das war kein Problem, solange die Kindersterblichkeit extrem hoch war und zusammen mit Seuchen, Krankheiten und sogar Kriegen die Bevölkerungsentwicklung begrenzte. Das ist sozusagen eine natürliche, wenn auch sehr grausame Verhütungsmaßnahme. Diese Dinge haben wir weitgehend in den Griff bekommen, und seitdem vermehrt sich die Weltbevölkerung explosionsartig, und zwar besonders die Bevölkerungsgruppe, der es am schlechtesten geht und die keine Verhütung betreibt, sei es, weil sie kein Geld dafür hat, weil sie einem Ahnenkult unterliegt, weil sie darüber nicht genug weiß oder aus religiösen Gründen.
Zur Zeit beträgt die Zeitspanne für die Verdopplung der Weltbevölkerung etwa 60 Jahre. Ohne Verhütung kann man locker mit 20 Jahren rechnen. Das bedeutet, das aus den gegenwärtig 7 Mrd. Menschen in 100 Jahren ohne Verhütung ca. 230 Mrd. Menschen werden würden. Die Ressourcen, die für dieses Wachstum benötigt werden, sind aber schon viel früher zu Ende, in diesem Fall schon in weniger als 20 Jahren.
Die Frage der Verhütung ist also essenziell für unsere globale Zukunft. Damit verbunden ist aber auch die Frage der Bewusstwerdung, denn die Verhütung ist nur ein technisches Detail, ein notwendiges Element in der Gestaltung unserer Zukunft. Um diese erfolgreich zu bewerkstelligen, sind viel mehr Elemente notwendig: Wir müssen lernen, uns als große, globale Gemeinschaft zu sehen. Wir müssen lernen, dass wirkliche Individualität und Gemeinschaftsempfinden einander nicht ausschließen, sondern ergänzen. Wir müssen lernen, dass unsere allumfassende Entfaltung – um ein gerne missbrauchtes Modewort zu verwenden – alternativlos ist. Wir müssen lernen, dass eine Gesellschaft in jeder Hinsicht Vielfalt braucht statt uniformer Einheit. Wir müssen lernen, einem Ideal entgegenzuleben, das über religiöse, wirtschaftliche, soziale und politische Dogmen hinausgeht. Wir müssen lernen, einander zu lieben, zusammenzuarbeiten und miteinander zu teilen. Wir müssen lernen, in einer Gesellschaft und Gemeinschaft zu leben, die über die Dualismen und Dichotomien von Ich und Ihr, von Freund- und Feindbildern hinauswächst in eine neue Einheit hinein.
Dafür brauchen wir eine innere Beweglichkeit, neue Ideen und eine Offenheit für neue Ideen. Manchen alten Menschen und auch nicht wenigen jungen Menschen geht diese Beweglichkeit ab. Aber junge Menschen sind von Natur aus eher offener für einen Fortschritt, ja, sie verzweifeln bisweilen sogar an der Starrheit, der Unbeweglichkeit und den Feindbildern der älteren Generationen, in die sie dann früher oder später selbst hineinwachsen, weil sie in ihrem Streben nach Aufbruch und Fortschritt nicht gefördert werden, um es milde auszudrücken.
Der Kulturkampf, der zur Zeit – überall auf der Welt – von konservativen und religiösen Kreisen kräftig gepuscht wird, dreht sich um diese Frage des Fortschritts, und zwar des inneren und gesellschaftlichen Fortschritts; technologischer Fortschritt ist für diese Gruppe in Ordnung, sogar erwünscht, nicht aber der Fortschritt in Bewusstsein, Gesellschaft und Moral, der diesen eigentlich begleiten oder ihm idealerweise vorausgehen müsste.
Und die Frage der sexuellen, geschlechtlichen und emotionalen Vielfalt ist für diesen Fortschritt essenziell. Die Bemühung, Kinder in einem Stadium der Unwissenheit zu halten, egal, ob sie die Frage der sexuellen Vielfalt betrifft oder politischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge ist der unverschleierte Versuch, unsere Zukunft zu sabotieren und die kommenden Generationen unkritisch, dumm, stumpf und steuerbar zu machen und eine dichotome Gesellschaft zu erzeugen, die in eine neuzeitliche Form von Monarchie mündet.
Darum brauchen wir eine aufgeklärte Jugend. Dabei geht es nicht nur um die biologische Sexualaufklärung, die bei ihrer Einführung einen ähnlichen Widerstand erlebte, sondern um ein großes Gesamtbild, in dem Sexualität nicht nur ein biologischer Akt ist, um Kinder zu zeugen. Die Sexualität in all ihren Formen ist mittel- und unmittelbar mit allen Aspekten unseres Lebens verknüpft und über die Beziehungen und die Beziehungsfähigkeit sehr stark mit den Fragen der Gemeinschaftsbildung. Das notwendige Zusammenwachsen und Einheitsempfinden einer Gemeinschaft geht nur über Verständnis und Akzeptanz anderer Lebensweisen und ihres Beitrages für die Gemeinschaft. Abneigung gegen andere Menschengruppen, was sich z. B. in Fremdenhass oder Homophobie äußert, ist anerzogen, während Fremde und Homosexuelle so geboren sind. Nichts gegen diese Fehlentwicklungen zu unternehmen, bedeutet sie zu fördern und zu zementieren und das dringend notwendige Zusammenwachsen der Gemeinschaft zu hintertreiben.
Und wenn homosexuelle Menschen, was nur ihnen vorgeworfen wird, nur selten Kinder zeugen, so heißt das überhaupt nicht, dass sie nichts zur Gemeinschaft beitragen würden. Es gab zwar nie viele Homosexuelle, aber sie haben einen nicht zu unterschätzenden, wenn nicht sogar essenziellen Beitrag für das menschliche Zusammenleben und Zusammenwachsen und für die Entwicklung unserer Kultur geleistet. Dazu sind keine großen Zahlen oder gar Mehrheiten nötig, sondern nur das Überschreiten eines sogenannten Tipping-Points. Was passiert, wenn Homosexuelle landflüchtig werden oder so unterdrückt werden, dass ihre Sichtbarkeit zur Unsichtbarkeit wird, kann man im schon erwähnten amerikanischen Bible-Belt sehen.
Viele dieser meist noch unerforschten Tipping-Points, die etwa das Verhältnis von Arm und Reich, den ökologischen Fußabdruck, die Verslummung oder die Bevölkerungsdynamik betreffen, sind heute in Gefahr oder schon unterschritten worden. Dem können wir nur entgegenwirken, wenn die Bevölkerung nicht verdummt, sondern umfassend aufgeklärt wird, allen voran unsere Jugend. Und da die Eltern diese Aufgabe bisweilen nicht erfüllen können, allein schon deshalb, weil sie selbst keine offene Wahrnehmung und Kritikfähigkeit vermittelt bekommen haben, fällt diese Bemühung dem Staat zu, dessen Aufgabe es ist, unabhängig von Werten, Nicht-Werten oder abweichenden Wertvorstellungen der Eltern, alle Kinder gleichermaßen zu fördern und ihnen das Rüstzeug mitzugeben, mit dem sie sich selbst eine unabhängige Meinung erarbeiten können. Es ist nicht Aufgabe des Staates, religiöse oder konservative Werte zu fördern, sondern seinen vielfältigen Mitgliedern – frei von Dogmen – die Möglichkeit zur optimalen Entfaltung, Bewusstwerdung und Gemeinschaftsbildung zu bieten.
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Herzlichen Dank
für diesen nüchternen und hervorragend strukturierten Artikel.Ich bin auf ihn gestoßen bei Recherchen zu einer Replik auf die Lobeshymnen, die das On-Line Magazin Cicero ausgerechnet Birgit Kelle gönnte, die ja zu den Frontkämpfern gegen Gender-Mainstreaming gehört. Daß von dieser Fronde aus rechts-kathol-evangelikalen Figuren ungeheuerliche Lügen und absurder Unsinn verbreitet werden, scheint aber viele Intellektuelle nicht zu stören – die jüngsten Ausfälle von Frau Lewitscharoff zeigen das. Sie durfte sich am 2. Mai im ZDF ausführlich dazu verteidigen.
Die “Julia Streicher” der Anti-Gender-Fronde ist aber Gabriele Kuby, die versucht, eine ähnliche Organisation wie Frigide Barjot in Frankreich aufzuziehen. Ihr Machwerk “Die globale sexuelle Revolution” hat die gleiche Lügen”qualität” und Verschwörungsmentalität wie einmal die Hetzschrift “Die Weisen von Zion”.
Von Kelle bis zum widerlichsten Frontkämpfer Weihbischof Laun aus Salzburg – der dieser Tage wieder einmal die Niedertracht vom knabenverführenden Homosexuellen hinausposaunte (kath.net vom 2.Mai) – wird mit Kalkül die Botschaft verbreitet: gleiche Rechte für Homosexuelle heißt die Pädophilen übernehmen die gesellschaftliche Macht und bedrohen unsere Kinder…
Diese Erzlüge trifft nach “Manif pour tous” und dem Sturm in Baden-Württemberg auf fruchtbaren Boden.
Dabei geht es diesen Leuten nicht allein um eine erneute “Regulierung der Sexualität” wie Kuby es nennt – es geht tatsächlich um die Abschaffung von Menschenrechten und Demokratie. Der Jubel, der aus diesen Kreisen z.B. für die neue ungarische Verfassung aufgebracht wird (die tatsächlich die Vorstufe für den Weg in die katholische Theokratie bedeutet), ist höchst bedenklich.
Wenn auf der einen Seite angeblich die Säkularisierung in diesem Lande weit fortgeschritten sein soll, dann bleibt doch andererseits zu fragen, weshalb diese Figuren von einer großen Öffentlichkeit willkommen geheißen werden.
Bildet sich das eine deutsche Teaparty heraus?!