Die Flüchtlinge und die Entropie

Das Problem, das die gegenwärtigen Flüchtlinge darstellen, ist eines, das weder neu noch unerwartet ist. Wenn man vom gesunden Menschenverstand absieht, hätte jeder Physiker, der sich an sein Grundlagenstudium erinnert und der bereit ist, ein wenig über seinen Tellerrand hinauszusehen, das Auftreten der Flüchtlingsströme und auch anderer Problemfälle prognostizieren können. Und genau genommen können auch die Biologen mit ihrem Grundlagenwissen etwas zum Verständnis und zur Lösung der Problematik beitragen. 

Das Leben auf dieser Welt wird, wenn man mal von religiösen und quasi-religiösen (also z. B. kapitalistischen) Einflüssen absieht, vor allem von zwei widerstrebenden Faktoren bestimmt, der Entropie (Physik) und der Evolution (Biologie). Wenn die Sonne kontinuierlich Energie ausströmt und diese dadurch auch der Erde zuteil werden lässt, dann ist das ein Vorgang, mit dem die Entropie im Universum erhöht wird und der letztlich zum sogenannten Wärmetod des Universums führen soll, der aber auch in kleinerem, regionalen Maßstab die Evolution auf der Erde fördert oder zumindest ermöglicht. Entropie wird gemeinhin als Zunahme von Chaos beschrieben und als Bemühung um gleichmäßige Verteilung von Energie, wobei „Bemühung“ eigentlich nicht ganz das richtige Wort ist, da in diesen Vorgang ja keine Energie investiert wird. 

Für unsere gegenwärtige Situation und auch ganz allgemein bedeutet das, dass zwei unterschiedliche Energiezustände immer dazu tendieren, sich auszugleichen und zu einem Mittelmaß zu finden. Wenn es draußen kälter ist als drinnen, dann strömt Wärmeenergie solange nach außen, bis innen und außen die gleichen Temperaturen herrschen. Und durch die Evolution (in diesem Fall die Evolution des naturwissenschaftlichen Wissens), die der Entropie entgegenwirkt, gelingt es uns, diese unterschiedlichen Energiezustände zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Die Heizsysteme und Isolierungen, die wir erfunden haben, sind so gesehen Ausdruck einer Evolution und sollen diesen entropischen Wärmeverlust ausgleichen und behindern. Evolution bedeutet, höher energetische Zustände, also Zustände höherer Ordnung zu erzeugen. Global betrachtet liefert die Energie dazu die Sonne, die das Entstehen eines evolutionären Lebens überhaupt erst ermöglicht hat, und auf unser gesellschaftliches System bezogen ist der Motor unserer, der übrigen Natur gegenüber beschleunigten Evolution, der menschliche Drang nach Fortschritt, der sich seinerseits auf die Seele und noch ursprünglicher auf die Schöpfung zurückführen lässt. Aber soweit muss diese Betrachtung nicht führen. 

Wenn wir uns einfach mal die soziale Evolution ansehen, dann hat sich der Mensch von kleinen nomadisierenden Familienverbänden zu solch komplexen Staatssystemen wie der Europäischen Union hochgearbeitet, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese Entwicklung vor dem Erreichen einer geeinten Menschheit auf magische Weise aufhören wird. Die Frage ist eher, ob wir dieser Entwicklung zu- oder gegenarbeiten. 

Die gegenwärtige Tendenz sieht so aus, dass die Welt und die Menschheit mit einem hohen Energieaufwand in zwei und mehr Teile gespalten wurde, was bedeutet, dass zum einen gegen die gesamtgesellschaftliche Evolution gearbeitet wird, die auf Vereinigung ausgerichtet ist, und zum anderen, dass dieser Zustand gegen die automatischen Bestrebungen der Entropie aufrechterhalten und verteidigt werden muss. Wenn man die Menschheit mal ganz grob in zwei Teile auftrennt, dann lebt der eine Teil in relativem Frieden und Wohlstand, und der andere Teil lebt in Krieg und Armut. Und auch wenn es vielen oder sogar den meisten Menschen des wohlhabenden Teils nicht bewusst ist, basiert dieser Wohlstand nicht nur auf der eigenen Leistung, sondern auch auf der vielfältigen und vielgestaltigen, direkten und indirekten Ausbeutung des anderen Teils der Menschheit. Es wird also mit viel Aufwand ein künstliches Entropiegefälle erzeugt und mit viel Aufwand aufrechterhalten und vertieft. Das kann nur funktionieren, wenn nicht nur stetig Energie zugeführt, sondern auch immer mehr Energie für die Aufrechterhaltung dieses Ungleichgewichts aufgewandt wird. Allerdings wird dabei der Druck auf beiden Seiten der Spaltung immer größer, und dann genügt schon eine kleine Schwachstelle, und die Entropie wird sofort ihrer Natur folgen und versuchen, diese Spaltung auszugleichen. Und da die Reichen und ihr Reichtum nicht zu den Armen und der Frieden nicht in die Kriegsgebiete strömt, kommen die Armen und die vom Krieg Gezeichneten zu uns, zur Quelle ihrer Not; man könnte aber auch sagen, sie folgen dem Geldstrom zu seiner Mündung, also zu uns. 

Das ist für uns vielleicht nicht schön, aber es ist ein vollkommen natürliches und erwartbares Ereignis, das mit dem honduranischen Flüchtlingsstrom mittlerweile auch in einer anderen Region der Welt sichtbar wird. Die interessante und wichtige Frage ist, wie man damit umgeht. Man kann natürlich, wie oft vorgeschlagen und teilweise praktiziert, die Grenzen dicht machen und versuchen, das Problem und das damit verbundene Leid auszusitzen oder versuchen, die Flüchtlingszahlen zu minimieren, indem man sie auf dem Meer ertrinken lässt, vielleicht in der Hoffnung auf eine abschreckende Wirkung. Aber man sollte sehen, dass die Flüchtlingsmassen für rationale Argumente und Erwägungen, die noch dazu keinen Lösungsansatz bieten, überhaupt nicht offen sind. Diese Menschen haben in der Mehrzahl der Fälle irgendeine Art von Leid erfahren und sind einem Leidensdruck ausgesetzt, der sie regelrecht zu einer Veränderung zwingt. Der Damm gegen die Entropie ist gebrochen und die entropische Flut lässt sich allenfalls noch mit einem Genozid aufhalten, gegen den der Holocaust sich wie eine Kinderei ausmachen wird. Die Folge wäre aber keine Entspannung der Lage, sondern eine Problemverlagerung, denn reich kann man immer nur auf Kosten anderer werden. Die Reichen wollen reich bleiben und nichts abgeben, und darum wird fast automatisch eine weitere Spaltung in Reich und Arm provoziert, wie es ja auch so schon begonnen hat, bzw. wird die im reichen Teil selbst bereits existierende Spaltung weiter vertieft. Und diese Entwicklung wird kein Ende nehmen können, denn auf diese Weise kann keine Gesellschaft entstehen, die nur aus Reichen besteht, obwohl eine Gesellschaft reicher Menschen ganz grundsätzlich durchaus möglich wäre, nur eben nicht auf diese Weise. 

Da der Genozid, nicht nur aus logischen (Wegfall einer ausbeutbaren Masse), sondern vor allem aus ethischen und humanistischen und eigentlich auch aus religiösen Gründen absolut inakzeptabel ist (obwohl er eigentlich schon längst begonnen hat), muss eine andere und vor allem bessere und akzeptable Lösung gefunden werden. Das Gesetz der Entropie verlangt einen Ausgleich, egal wie. Wenn wir die notleidenden Menschen also nicht bei uns haben wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass sie keine Not mehr leiden, und dann verschwinden zusammen mit dem Entropiegefälle auch die Wanderbewegungen. Man muss hier bedenken, dass diese Menschen nicht aus einer Laune heraus und leichten Herzens ihre Heimat verlassen, sondern durch einen unerträglichen Leidensdruck. Je mehr Menschen ihr Land verlassen, desto stärker sinkt für die zurückbleibenden der Leidensdruck, denn sie können jetzt besser von den vorhandenen Ressourcen leben. Auf der anderen Seite sinkt bei uns, wenn der Strom der Flüchtlinge stärker wird oder zu lange anhält, der Lebensstandard, was im Moment noch lange nicht der Fall ist. Da ein Teil „unserer“ Ressourcen aber aus den Flüchtlingsländern stammt oder aus Ländern, die hier schon auf der Kippe stehen, werden dann von dort weitere Ressourcen abgezogen, was den Flüchtlingsstrom sozusagen perpetuiert. 

Wie schon gesagt, man kann nicht reich werden, ohne Armut zu erzeugen. Also müssen wir uns Gedanken über unsere gesellschaftlichen Ziele und die Grenzen des Reichtums und des Kapitalismus machen. Wir können, wenn wir dies wollen, ein gutes und ressourcenschonendes und friedliches Leben führen und auch den benachteiligten und ausgebeuteten Ländern langfristig zu einem vergleichbaren Lebensstandard verhelfen, und schon wenn wir uns ernsthaft an diese Aufgabe machen, werden die Flüchtlingsströme anfangen zu versiegen, denn niemand verlässt gerne seine Heimat. 

Man kann die Lage aber auch so sehen, dass unser gesamt-menschlicher Organismus eine Krankheit hat, wie zum Beispiel Hautkrebs. Unsere logische Reaktion wäre, die Ursachen zu bekämpfen, aber statt dessen schminken wir die schwarzen Flecken weg — und sterben an der nicht behandelten Krankheit. Unsere Welt weist viele dieser schwarzen Flecken auf, und wir tun unser Äußerstes, um sie nicht wahrzunehmen; der Psychologe würde hier wahrscheinlich von Verdrängung sprechen.

Also: ernsthafte Entwicklungshilfe, die nicht dazu dient, unsere Banken reicher zu machen und unsere Wirtschaft anzukurbeln; Ächtung des Waffenhandels und besser noch, Einstellung der Waffenproduktion, weltweit; Beendigung aller Kriege, religiösen Konflikte und der manipulativen Teile-und-Herrsche-Praxis; Zähmung des Kapitalismus und/oder Formulierung und Umsetzung eines globalen und gemeinwohlorientierten Wirtschaftsideals; freie Bildung für alle. 

Es ist sicher nicht einfach, der Welt eine neue Ordnung zu geben, aber wo ein Wille ist, da ist ein Weg, und ohne Wille kein Weg. Solange wir uns nicht ERNSTHAFT und global daran machen, im Geiste echter Zusammenarbeit eine gerechte, angemessene und nachhaltige Lösung zu erarbeiten, wird sich die Lage weiter verschärfen, nicht nur zwischen unserer Welt und der Welt der „Anderen“, sondern auch zwischen Arm und Reich bei uns, wo es ja auch schon am Brodeln ist, denn sonst gäbe es die Fremdenfeindlichkeit nicht in diesem Ausmaß. Die Evolution erfordert diese neue Ordnung; wir können uns bewusst und freiwillig an diese Aufgabe machen oder weiterhin der Evolution hinterher hinken oder gegen sie arbeiten und schließlich unter dem Leidensdruck, den die Flüchtlinge früher oder später in der gesamten westlichen Welt auslösen werden, unter noch mehr Schmerzen zur notwendigen Entwicklung finden. Wir sollten uns hier immer den Ausspruch vor Augen halten, der Mahatma Gandhi zugeschrieben wird: Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.

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