Die Demokratie liegt im Sterben, und „Jamaika“ ist nur eines der Anzeichen dafür.
Leben bedeutet Veränderung, Wandel, Wachstum. Damit eine Demokratie lebendig ist, muss sie wachsen, sie muss mit den Menschen mitgehen, sie begleiten und ihre gewachsenen Möglichkeiten und ihr Bewusstseinswachstum widerspiegeln. Bei den Jamaika-Verhandlungen und bei anderen schwierigen Regierungsbildungen wird auf Teufel komm raus an überholten Traditionen und Mechanismen festgehalten. Als die modernen Demokratien ihren Anfang genommen haben, war dies genau das: ein Anfang – kein Ende, kein abgeschlossener Prozess, sondern der Beginn einer Entwicklung, die nie Fahrt aufgenommen hat. Die Politiker beschäftigen sich überwiegend mit sich selbst, mit ihren Profilneurosen, mit ihrem Machtwillen, mit Mauscheleien und mit Krisenbewältigungen. Dabei ignorieren sie eine ihrer Hauptaufgaben, die Pflege und Förderung der Demokratie, die zu wachsen aufgehört hat und mittlerweile einem Kind mit Zwergwuchs ähnelt. Und die Bürger sind zu Recht über die Politik empört und als Symptom politikverdrossen.
Bei Jamaika wird versucht, gegensätzliche Ansichten unter einen Hut zu bringen und damit erfolgreich zu regieren. Wenn man mal davon absieht, dass das Parteisystem ganz grundsätzlich in Frage gestellt werden kann und das Wahlsystem gründlich überarbeitet werden müsste, beides um dem Willen des Volkes besser zu entsprechen, muss man doch feststellen, dass der Wille des Volkes, das ja diese Parteien alle gewählt hat, mit den alten Methoden nicht wirklich zum Tragen kommt. Die Bürger wählen nicht, damit sich ihre Vertreter auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen, sondern damit die Dinge auf optimale Weise bewältigt werden.
Dabei liegt die Lösung eigentlich auf der Hand, wenn man bereit ist, den Kleinkrieg hinter sich zu lassen und die Demokratie, von einem höheren Standpunkt aus, neu zu betrachten. Erdogan soll mal gesagt haben, dass seine Partei über 50 % der Stimmen bekommen hat, und er darum bestimmen kann. Das ist keine Demokratie, sondern so etwas wie eine Diktatur der Mehrheit, die vielleicht eine gewisse praktische Berechtigung hat, aber auf Dauer das Ziel deutlich verfehlt.
Alle Parteien wurden gewählt, also sollten auch alle Parteien regieren. Die Zauberworte, um die es in der Demokratie geht, heißen nicht Macht und Gegeneinander, sondern Zusammenarbeit und Lösungsorientierung. „Wenn du mich bei dieser Sache unterstützt, dann bekommst du im Gegenzug meine Unterstützung für deine Sache.“ Solche Absprachen sind keine Demokratie, sondern Machtpolitik, Mauschelei, Verrat, Handel. Eine Regierung wird gewählt, um Lösungen für das Zusammenleben der Menschen Nationen und mittlerweile auch für das Überleben (als Mindestforderung) auf diesem Planeten zu finden. Und dabei müssen alle mithelfen.
Praktisch kann das so aussehen, dass Absprachen und Koalitionen grundsätzlich verboten werden. Alle Parteien bekommen ein Ministerium und die größeren Parteien mehrere. Solange diese Ministerien nicht durch eine Direktwahl vergeben werden, müssen sich die Parteien zusammensetzen und die Verteilung untereinander ausmachen. Dabei und auch bei zukünftigen Abstimmungen und Wählen kann ein Verfahren zum Einsatz kommen, das als Systemische Konsensierung bezeichnet wird und das vielleicht nicht Erdogan, sicher aber Trump verhindert hätte. Dieses Verfahren bedeutet, dass man nicht zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählt, sondern nach gründlicher Diskussion und Information jede der Möglichkeiten einzeln bewertet. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Ergebnisse erzielt werden, mit denen die meisten Menschen leben können. (Näheres dazu in meinem Buch Politik — Eine Zukunft für die Zukunft – oder bei den ersten Erfindern und Namensgebern der Methode). Die Regierung setzt sich dann regelmäßig (= häufig) zusammen und stimmt sich in allen wichtigen Fragen ab.
Was auf jeden Fall auch verschwinden muss, ist die unethische, erpresserische und undemokratische Praxis, Gesetze, die nichts miteinander zu tun haben und die nicht voneinander abhängig sind, als verschnürtes Paket zur Abstimmung zu bringen – und Jamaika ist genaugenommen selbst ein solches Paket. Außerdem muss auch der Fraktionszwang bei Abstimmungen, der bei einer Jamaika-Koalition verstärkt zum Einsatz kommen wird und der dem Geist der Demokratie und dem Deutschen Grundgesetz zuwiderläuft, ersatzlos gestrichen werden.
Dann hätten wir den Anfang einer Regierung des Volkes, die vielleicht auch im Sinne des Volkes tätig wird und sich mehr mit Fortschritt statt mit Machtpolitik beschäftigt.