1. Kapitel: Was ist Polyamorie

Die Welt der persönlichen Beziehungen ist vielfältig – was nicht immer so war. Bis noch vor recht kurzer Zeit beschränkte sich das intime Miteinander auf eheliche und nicht-eheliche Beziehungen und auf mehr oder weniger lange und viele Seitensprünge, wobei aus kirchlich-gesellschaftlicher Sicht eigentlich nur Ehen akzeptabel waren. Im letzten Jahrhundert wurden das zur Beziehungswelt gehörige Vokabular und die damit verbundene Lebenswelt um verschiedene Begriffe erweitert, wie offene Beziehung, eingetragene Partnerschaft, Homo-Ehe, freie Liebe, Promiskuität, Partnertausch oder Swinger. Die Begriffe sind neu, die Handlungsmöglichkeiten ein wenig freier und großzügiger, aber alles in ­allem sind es nur etwas reichhaltigere Variationen eines uralten Beziehungsschemas.

Der neueste Begriff im Beziehungshimmel ist die Polyamorie. Dieser Begriff ist so neu, dass er noch weitgehend unbekannt ist. Die Seinsweise hingegen, die er beschreibt, wurde unterbewusst wohl schon vielfach sehr viel länger ersehnt, wenngleich es sicher auch schon früher vereinzelt und meist verborgen polyamore Beziehungen gegeben hat. Aber erst die langsame Befreiung des Bewusstseins von den Fesseln der Religion, der wohlmeinenden traditionalistischen Gesellschaft, der obrigkeitshörigen Bewusstseinsenge und äonenlanger Verdummungsbemühungen seitens Kirche und Staat hat es dem Menschen ermöglicht, sich neue ­Bewusstseinsräume zu erschließen und von vorgezeichneten Gedankenmustern abzuweichen. Die Polyamorie, als Ergebnis ­dieses Bewusstseinswachstums, ist eine Revolution der Beziehungs­muster, die seit Urzeiten erste wirkliche Neuerung im Beziehungs­himmel.

Wenn man das Wort Polyamorie übersetzt, so lautet es auf Deutsch „Vielliebe“. Wer das Wort zum ersten Mal hört, dem fällt vielleicht die Ähnlichkeit zu Polygamie – mit ihren Formen der Polygynie und der selteneren Polyandrie – auf und er vermutet darum möglicherweise einen weiteren Oberbegriff für die beiden Formen der Vielehe. Aber das ist in dieser Form nicht ganz richtig und fast genauso falsch wie die Verbindung zu Promiskuität oder Kuschelpartys, denn das Wort Polyamorie bedeutet zuallererst die Liebe – und daraus folgend auch die Beziehung – zu mehreren Menschen gleichzeitig. Und dabei ist vor allem neu, dass jeder der Beteiligten frei ist, weitere Beziehungen einzugehen und statt Teil eines mehr oder weniger großen Polygamie-Fächers Teil eines offenen Netzwerkes zu werden. Das ist die Grunddefinition der Polyamorie, und die mögliche Spannweite dieses Beziehungsfeldes und die Auswirkungen und Grundlagen sind Thema dieses Buches.

Natürlich tauchen sehr schnell Fragen nach der Abgrenzung dieses noch unbekannten Phänomens auf, nach dem Unterschied zu Polygynie, Polyandrie, freier Liebe, Seitensprüngen, Bigamie, serieller Monogamie, offenen Beziehungen und sogar der engen Freundschaft.

Polygynie etwa ist die Beziehung eines dominanten Mannes zu mehreren untergeordneten Frauen. Sie existiert in vielen ursprünglichen Kulturen, vorwiegend im alten Islam und bei den Mormonen. Die Anzahl der Frauen, über die ein Mann dabei verfügt, ist Abbild von Ansehen, Manneskraft, Macht und Besitz. Die Beziehung zu den Frauen ist vor allem vom Lustgewinn für den Mann bestimmt und eher selten von Liebe und gegenseitiger Achtung, die Beziehung der Frauen untereinander von Rivalität, widerstrebender Akzeptanz und, wenn sie darüber hinausgewachsen sind, von Solidarität und Freundschaft. Beziehungen der Frauen zu jemand anderem als dem Alpha-Mann stehen dabei völlig außer Frage.

Bei der selteneren Polyandrie sind die Geschlechterbeziehungen umgekehrt; hier bildet eine Frau den Mittelpunkt für mehrere, meist verwandte Männer, allerdings nicht so despotisch wie bei der Polygynie. Dies liegt daran, dass bei der Polyandrie meist nicht Macht usw. im Mittelpunkt steht, sondern das effiziente Überleben, denn während ein polygyner Mann, wie etwa Salomo, theoretisch Hunderte von Kindern haben könnte, kann eine polyandrische Frau nur maximal vielleicht ein Dutzend Kinder haben, die von vielen Männern versorgt werden, was bei beschränkten Ressourcen ein durchaus sinnvolles Mittel ist, um das Bevölkerungswachstum zu beschränken. Allerdings führt dies zu einem Überschuss an ungebundenen Frauen, ähnlich wie bei der Polygynie, die einen Männer­überschuss hervorruft.

Rein formell gesehen sind diese beiden polygamen Beziehungsformen ebenso wie die vorherrschende Monogamie Sonderformen der Polyamorie, denn polyamore Menschen können durchaus solche Beziehungen eingehen und akzeptieren. Der Unterschied liegt aber in der inneren Haltung der Gleichberechtigung, die es in den historischen Formen der Polygamie nicht gibt, in der Liebe, die in diesen Beziehungen eher sekundärer Natur ist, und in der Möglichkeit aller Partner, von sich aus weitere Beziehungen eingehen zu können, was in einer klassischen polygamen Beziehung ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Freie Liebe ist ein unspezifischer Begriff, der zudem etwas irreführend ist, weil es dabei nur um eine von zwei Sorten Freiheit und außerdem meist mehr um Sex als um Liebe geht. Freie Liebe bedeutet in der Praxis, dass man für sich in Anspruch nimmt, mit jedem willigen Menschen Sex zu haben, ohne sich dabei allzu fest oder gar ausschließlich zu binden und ohne sich um störende gesellschaftliche Konventionen zu kümmern. Es geht dabei aber nicht darum, sich von allen Konventionen, dem sexuellen Drang und der eigenen Konditionierung frei zu machen und im Ausdruck seiner Liebe so frei zu werden, dass man sie mehreren Partnern oder gar allen Wesen schenken kann.

Seitensprünge sind zeitlich meist beschränkte Ausbruchsversuche aus dem Ehe- und Beziehungseinerlei, die überwiegend ­sexueller Natur sind, manchmal begleitet von einem Hauch Romantik, und von denen der Partner tunlichst nichts erfahren darf, wenn man Wert darauf legt, seine Primärbeziehung unbeeinträchtigt weiterzuführen.

Wenn sich so ein Seitensprung als ernster herausstellt und im eigenen Gefühlsleben der Primärbeziehung Konkurrenz macht, dann gibt es dafür in der Regel zwei Lösungsmöglichkeiten. Wenn man beide Partner liebt und sich für keinen von beiden entscheiden kann, dann kommt die seltenere davon zum Einsatz, die darin besteht, stressige und teure parallele Beziehungen zu führen, die voneinander nichts wissen dürfen, also Bigamie.

Wenn dagegen die neue Beziehung im Eifer der Begeisterung und mit dem Zauber des Neuen die Oberhand gewinnt und die Hemmschwellen genügend aufgeweicht sind, dann kommt die andere Lösung zum Tragen. Man trennt sich vom ersten Partner zugunsten des zweiten. Wenn dann die Magie der jungen Liebe verflogen ist, oder man den neuen Partner plötzlich klarer sieht und ein neuer magischer Lichtblick eine neue Liebe enthüllt, kommt die Zeit einer neuen Trennung und einer weiteren, neuen Beziehung. Das nennt sich dann serielle Monogamie – man hat zwar viele Partner, aber immer schön brav nacheinander bzw. leicht überlappend.

Wenn man dagegen von vornherein etwas offener ist, kann man sich mit seinem Partner zu Beginn der Partnerschaft auf eine offene Beziehung verständigen, im Bewusstsein, dass man so den oft ohnehin unvermeidlichen Seitensprüngen ein wenig die Spitze nimmt. Diese Übereinkunft kann dann so aussehen, dass Seitensprünge grundsätzlich erlaubt sind, solange sie zeitlich und/oder emotional begrenzt sind und die Beziehung nicht gefährden, wobei manche Paare sich auf Diskretion verständigen, nach dem Motto „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, während andere Wert auf zeitnahe Information über die Inanspruchnahme der Offenheitsklausel legen.

Freundschaften sind Beziehungen, die man natürlicherweise mit vielen Menschen gleichzeitig haben kann und die so intensiv werden können, dass sie nur deshalb noch Freundschaft genannt werden, weil sie sich nicht sexuell ausdrücken (was nicht heißt, dass es nicht auch freundschaftlichen Sex geben kann) und weil niemand bereit ist, das Kind – die Liebe – beim Namen zu nennen, womöglich aus Angst, sonst zusammenziehen und miteinander Sex haben zu müssen.

All diese Beziehungsformen sind geprägt von Formationen (also festgefügten Vorstellungen mit scheinbarem Naturgesetzcharakter), unausgesprochenen Wünschen, Egoismen der Macht, scheinbaren verwaltungstechnischen Notwendigkeiten, einem Nicht-hinsehen-wollen, einer Verwechslung von Sex mit Liebe, von Ignoranz und von vielfältigen Ängsten. Alle diese Dinge wären ohne weiteres handhabbar mit Mut, einem klaren Blick für die Realitäten, Selbsterkenntnis, Einfühlungsvermögen und vor allem mit viel Liebe – Liebe zu sich, Liebe zu seinem Partner und Liebe zu den Mitmenschen.

Die Polyamorie bietet die Möglichkeit, all diese Probleme zu beseitigen, aber sie ist kein Allheilmittel, das man bei Beziehungsproblemen verschreiben könnte, denn Polyamorie ist keine Technik und kein mechanisches Verhaltensmuster, und sie ist auch noch nicht als Selbstverständlichkeit im Bewusstsein der Menschen angekommen. Ganz im Gegenteil führt sie zu allen möglichen Problemen, denen man sonst vielleicht nie begegnet wäre, bietet aber andererseits auch ganz andere Möglichkeiten.

Stattdessen ist Polyamorie zuallererst eine neue und offenere Methode, Beziehungen zu betrachten. Diese basieren auf den Prinzipien der Liebe, der Freiheit, der Offenheit, des Austausches, der Freiwilligkeit, des Respektes, der Beständigkeit, des Verständnisses, der Verbindlichkeit und stetiger Entwicklungsbereitschaft.

Das Prinzip der Liebe ist die erste Grundlage einer jeden Beziehung und für polyamore Beziehungen erst recht unerlässlich. Liebe ist das Grundgerüst und der Klebstoff jedweden Miteinanders, und je vielfältiger dieses Miteinander ausfällt, desto größer ist ihre Bedeutung. Wir kennen aus dem täglichen Leben den Mechanismus, dass das Geld, das wir jemandem geben, dazu führt, dass wir entsprechend weniger Geld zu unserer Verfügung haben. Geben wir jemandem all unser Geld, so haben wir nichts mehr, das wir geben könnten. Mit der Liebe ist es anders. Wir können einem Menschen so viel Liebe schenken wie wir wollen, und sie wird trotzdem nicht weniger, sondern ist stets bereit, sich noch einem anderen zu geben und noch einem und noch einem… Das liegt daran, dass die Liebe kein materielles Gut ist, sondern, verschiedenen Mystikern zufolge, der Urgrund allen Seins. Wenn man jemandem seine Liebe schenkt, dann öffnet man in sich ein Tor zum Sein und damit auch zur Liebe des anderen, und je mehr Menschen man liebt, desto mehr Tore öffnet man und desto mehr Liebe erfährt man. Allerdings sind wir es nicht gewohnt, so viel Liebe aus verschiedenen Quellen und zu verschiedenen Menschen zu spüren, und blocken ab, wenn es uns zu viel wird. Und unsere kalt-effiziente Gesellschaft und das Machotum arbeiten hart daran, das Liebes-Toleranz-Level durch Unterforderung auf niedrigem Niveau zu halten. Aber in unserem Innersten sind wir frei und können immer und jederzeit lernen, immer mehr Tore aufzumachen – und das müssen nicht unbedingt persönliche Tore sein, wie in der Polyamorie, es können auch Tore des Humanismus sein, religiöse und spirituelle Tore oder die Tore zu den Weiten und Tiefen der Natur und der ganzen Schöpfung. Das Potenzial der Liebesfähigkeit ist letztlich unendlich, und dass wir es nicht ganz auskosten, liegt an unserer Selbstbeschränkung auf Grund der Gesellschaft und unseres Glaubens an ihre Lehren und Mechanismen.

Die institutionalisierte Monogamie und die übrigen üblichen Beziehungsformen sind einer dieser Mechanismen. Damit sich die Liebe entfalten kann, muss man sich von diesen Mechanismen und dem Glauben an sie innerlich frei machen. Erst wenn man auf diese Weise frei ist, kann man anfangen, über sein Leben zu bestimmen. Dann kann man entscheiden, ob man ein monogames oder ein polyamores Leben führen oder anderen Wegen des Seins folgen möchte.

Wenn man so selbstbestimmt und sich selbst gegenüber offen und ehrlich ist und sich für ein polyamores Leben entschieden oder seine bereits vorhandene natürlich-polyamore Seinsweise erkannt hat, können sich in dieser Freiheit intensive Beziehungen jeglicher Art zu mehr als einem Menschen bilden, ohne dass man sich selbst dauernd hinterfragen muss. Diese Beziehungen entstehen aus sich selbst heraus, freiwillig, ohne altertümliche Arrangements, sozialen Druck oder der Notwendigkeit zu einer Entweder-Oder-Entscheidung als Folge einer Begegnung, einer Anziehung, einer Öffnung und des Austausches. Man gibt einem anderen etwas von sich, sei es ein Lächeln oder eine Empfindung, und erhält etwas von ihm, aber nicht wegen einer Erwartung, sondern aufgrund von innerer Nähe, Liebe und dem Wunsch zu geben, denn nur dann entsteht daraus keine Handels- sondern eine Liebesbeziehung. Und solange dies so bleibt, bleibt auch diese Art von Beziehung lebendig. Allerdings sollte man sich darüber im Klaren sein, dass dies ein erstrebenswerter Idealzustand ist, der in der Praxis kaum zu finden sein wird. Die meisten Beziehungen haben einen ziemlich großen Handels-Anteil, der damit auch in polyamoren Beziehungen als Ausgangspunkt vorherrscht, was jedoch nicht so bleiben muss, sondern sich durch die notwendigermaßen höhere Bewusstheit in Beziehungsfragen und die höhere Bereitschaft, sich mit der Dynamik, Intensität und Vielfalt des Beziehungsgefüges und mit der eigenen Gefühlswelt auseinanderzusetzen, zu einer stärkeren Betonung der Liebesbeziehung entwickeln kann.

Eine solche Beziehung ist einmalig und individuell, und dadurch ist sie auch unabhängig von jeder anderen Beziehung, die ihren ganz eigenen Wert hat. Es ist nicht wichtig, ob unterschiedliche Beziehungen von gleicher oder verschiedener Art sind oder mehr oder weniger intensiv empfunden werden. Jede Beziehung, die wir haben oder die ein Partner hat, ist als solche gleichwertig und verdient den gleichen Respekt, auch wenn uns die eine oder andere Beziehung wichtiger erscheint oder in unserem Denken oder Empfindungswesen mehr Raum einnimmt oder wir die Partnerwahl eines Partners nicht nachvollziehen können.

In letzterem Fall gibt es zwei Möglichkeiten. Eine davon ist, dass die beiden tatsächlich nicht zusammenpassen, sich die beiden also Illusionen über den jeweils anderen machen, oder dass Dinge zwischen den Partnern unterschiedlich wahrgenommen, gewertet oder gar verbal verstanden werden. Eine solche Beziehung löst sich früher oder später wieder auf oder führt dazu, dass man lernt, genauer hinzusehen und den anderen besser zu verstehen. Es kann aber auch sein, dass wir den Partner des Partners einfach nur nicht richtig verstehen und auch nicht, was in unserem Partner in dieser Hinsicht vorgeht. Doch wenn wir nicht von unserer Ablehnung ausgehen, sondern Respekt vor seiner Wahl haben, ihn lieben und offen sind, unser Urteil zu revidieren, dann können wir uns von unserem Partner helfen lassen, ihn und den anderen besser zu verstehen.

Im Fall solcher Diskrepanzen hätte man natürlich auch die Möglichkeit zu sagen, dass man den Partner nicht versteht und sich in ihm geirrt hat, was auch so immer wieder geschieht. Aber die Möglichkeit, mehrere Menschen zu lieben, bedeutet nicht, dass die Bindungen, die daraus erwachsen, schwächer sind und bereitwilliger gelöst werden können; die Bereitschaft zur Polyamorie bedeutet vielmehr, dass man jede Beziehung als wichtig betrachtet und bereit ist, diese über das eigene Ego zu stellen und sich mit der Ursache der Probleme auseinanderzusetzen und allen Krisen und Eifersuchtsanfällen zum Trotz, die Beziehung ernst zu nehmen. Zwar wird sich jede Beziehung im Laufe der Zeit wandeln, wird mehr oder weniger intensiv werden. Aber dadurch, dass die Notwendigkeit zu einer Entweder-Oder-Entscheidung weggefallen und auch die „Ehe = Erwartung von Sex“-Formation kein zwingender Bestandteil polyamorer Verbindungen ist, muss ein Nachlassen der Intensität nicht automatisch eine Trennung bedeuten, sondern wird eher zu einem Wandel des Beziehungscharakters führen, der sich durchaus auch wieder in die andere Richtung bewegen kann.

Dieser Entscheidungs- und Erwartungsdruck, der in konventionellen Beziehungen herrscht, bedingt meist ein Nachlassen der Beziehungsintensität und -identifikation bei der alten Beziehung parallel zu einem Anstieg in der neuen Beziehung. Gleichzeitig wird versucht, die aufkeimende neue Beziehung vor dem bisherigen Partner so lange geheimzuhalten, bis die neue Beziehung auf sicheren Füßen steht, was diesen Prozess zusätzlich beschleunigt. Dieses Verhaltensmuster fällt bei bewusst polyamoren Beziehungen ganz weg bzw. wird in sein Gegenteil verkehrt. Polyamore Bindungen mögen ihren Charakter bisweilen wandeln, aber wenn sie lebendig, wahrhaftig und zukunftsorientiert sind, dann zeichnen sie sich durch Beständigkeit aus, durch Ernsthaftigkeit und bewusste Verbindlichkeit, und selbst wenn eine Beziehung zwischen zwei Partnern zu Bruch gehen sollte, haben beide in einer fortgeschrittenen polyamoren Gemeinschaft noch andere Partner, die sie auffangen können, und auch die Gesamtatmosphäre und das entwickeltere Beziehungsbewusstsein werden dem Auseinanderfallen die übliche Härte nehmen und Spannungen und Animositäten in der Familiengemeinschaft zumindest reduzieren.

Natürlich ist dies alles ein Ideal, das sich noch lange nicht vollständig entfaltet und verwirklicht hat. Polyamore Gemeinschaften stehen erst am Beginn ihrer Evolution, stecken also noch in ihren Kinderschuhen. Die Pioniere, die sich jetzt daran machen, sich der Idee der Vielfachbeziehung zu öffnen, sie zu entwickeln und ihre Grenzen auszutesten, sind Abenteurer der Neuzeit, die sich abseits von vorgefertigten Idealen und Rezepten auf den Weg in eine noch unbekannte Zukunft machen. Dieser Weg besteht in einer Neudefinition von Beziehungsformen und Beziehungsinhalten, aufbauend auf einer grundlegenden Offenheit für mehrere simultane Beziehungen.

Diese neuen Formen sind aber nur Zustandsbeschreibungen, keine Normen, Empfehlungen oder Wertungen und sind darum auch in keiner Weise fixierte Erscheinungen, sondern nur Muster und Grundbausteine, die jederzeit in eine andere Form übergehen können. Der kleinste Grundbaustein und damit der Ausgangspunkt einer polyamoren Beziehung ist die V-Beziehung, die eine im Grunde genommen bigame Konstellation beschreibt, in der ein Mensch eine Beziehung zu zwei anderen Menschen unterhält. Eine seltene Spezialform davon ist die Delta- oder Dreiecksbeziehung in der die beiden Partner auch untereinander eine Beziehung haben. Wenn die beiden Partner noch jeweils eine weitere Beziehung eingehen, was in der klassisch bigamen Beziehung undenkbar ist, dann ist dies eine W-Beziehung. Eine Fächerbeziehung ist dann gegeben, wenn ein Mensch Beziehungen zu drei oder mehr anderen Menschen unterhält, was formal der Polygamie entspricht, sich von dieser aber durch die grundsätzliche Freiheit der Partner unterscheidet, unabhängig vom zentralen Partner weitere Beziehungen eingehen zu können und von der Möglichkeit, Partner des gleichen Geschlechtes in den Fächer einzubringen. All diese Formen können in unterschiedlichster Weise miteinander kombiniert werden, was zu einer großen Vielfalt individueller Beziehungskonstellationen führt, zum Beispiel zu Ketten- oder Kreisbeziehungen oder zu komplexen Netzbeziehungen, bei denen die Partner eines Beziehungsgeflechts zunehmend auch untereinander neue Verbindungen eingehen und so die familiäre Intensität und das Gefühl liebevoller Einheit erhöhen.

Doch diese Beziehungsformen sind nur ein äußerer Ausdruck ­eines Bewusstseinswandels, der sich von einengenden Konventionen und Vorurteilen freigemacht hat und sich aufmacht, zu neuen Horizonten aufzubrechen. Diese neue Freiheit drückt sich außer in der technischen Durchführung auch in den Inhalten aus, welche diese Formenwelt erst ermöglichen und konstituieren – in den Menschen und ihren inneren Beziehungen zueinander. Der Inhalt einer traditionellen Beziehung besteht in Zusammenleben, Hausstand gründen, gegenseitiger Unterstützung, sexuellem Vergnügen oder Pflichtsex, manchmal Kinderaufzucht und idealerweise auch Liebe. Neben dieser großen, offiziellen und gesellschaftlich geförderten Form gibt es noch andere Formen, die manchmal erwünscht sind, manchmal geduldet oder verpönt und die immer nur einen Aspekt der Beziehungsfülle herausgreifen: Freundschaft, platonische Liebe, sexuelle Beziehungen und alle möglichen anderen Arten von Interessensgemeinschaften. In der Polyamorie kann man dies alles und noch mehr miteinander verbinden, denn sie bedeutet keine vielfache Wiederholung des alten Beziehungsmusters. Polyamorie bedeutet nicht nur mehr als zwei Beziehungen, sondern sie bedeutet auch eine Vielfalt von Empfindungswelten und Beziehungsarten. Die Polyamorie kann grundsätzlich alle Arten von Beziehungen integrieren, unter der Voraussetzung, dass sie von beiden Seiten als bewusste Beziehungen verstanden werden. So ist eine Freundschaft zweier Menschen, die ab und zu zusammen etwas unternehmen und sich freuen, einander ab und zu zu sehen noch nicht automatisch Material für eine polyamore Beziehung. Das wäre erst dann der Fall, wenn jeder zum anderen etwa Folgendes sagen könnte: „Du bedeutest mir sehr viel, und ich möchte nicht nur ab und zu mit dir etwas unternehmen, sondern möchte, dass du ein fester und verbindlicher Bestandteil meines Lebens wirst, auch wenn du vielleicht nicht meine große Liebe bist und unabhängig davon, ob wir zusammenziehen und/oder Sex miteinander haben.“ Erst dieses Element der Verbindlichkeit und der bewussten Entscheidung füreinander und für eine gemeinsame Beziehung, in welcher äußeren Form auch immer, ist, neben irgendeiner Form der Liebe und der Bereitschaft, andere Partner neben sich zumindest zu dulden, die Voraussetzung für die Teilnahme an einer polyamoren Beziehung.

Wenn dieses Element gegeben ist, dann ist es ziemlich egal, welche spezifischen Eigenheiten die individuellen Beziehungen aufweisen. Polyamore Beziehungsgeflechte können aus heterosexuellen, bisexuellen, schwulen und lesbischen, asexuellen und Transgender-Menschen bestehen, aus Menschen, die sich heiß und innig lieben oder sich sehr mögen, und in gewissem Umfang sogar auch aus Menschen, die eigentlich für sich monogam leben möchten, deren Partner aber polygam empfinden und leben. Zu diesen Ursprungsbeziehungen können weitere Beziehungen aller Art kommen, wenn die Partner der Partner einander entdecken; das kann dann zu zusätzlichen Beziehungen führen, die das partnerschaftliche Netz enger knüpfen und intensivieren, und natürlich zu neuen Freundschaften und Interessensbeziehungen. Es kann also passieren, dass A mit B und C eine klassische Liebesbeziehung hat, mit D eine Liebesfreundschaft und E freundschaftlich toleriert, während B keine weitere Beziehung hat, C und E in Liebe verbunden sind und C und D in einer sexuellen Freundschaft …

Solche komplexen Beziehungsgeflechte mögen jetzt in polyamoren Beziehungen noch die Ausnahme sein, doch wenn zunehmend mehr Menschen den Ballast der Jahrtausende von sich abschütteln und sich von zivilisierten Steinzeitmenschen mit technologischer Hochkultur zu freien, modernen Zukunftsmenschen hin entwickeln, die eine Freiheit der Liebe, der Emotionen, der Sexualität und der Beziehungsfähigkeit verwirklichen, die über das hinaus geht, wovon Teile der 68er-Generation damals geträumt haben, dann werden auch solche und komplexere Beziehungskonstellationen in einer wirklich modernen Welt Realität werden.

Dazu sind Träumer nötig, die eine Vision vor Augen haben, die jetzt noch jenseits des traditionellen Verständnisses der Wirklichkeit liegt, und Abenteurer, die bereit sind, noch unentdeckte und verborgen gehaltene Innenwelten zu entdecken und zu betreten und unbeirrt von Fesseltraditionen in eine freie Zukunft aufzubrechen.

 

 

Die Träume von heute sind die Wirklichkeiten von morgen.

Michel Montecrossa

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