„Krise als Chance“ heißt ein Thema, das Trainer für betriebliche und persönliche Optimierung gerne abhandeln, um zu zeigen, dass es kaum Schwarz-Weiß-Situationen gibt und dass eine jede Sache meist mehrere Seiten hat und man immer nach den Möglichkeiten suchen muss, das Beste aus einer Situation zu machen. Die überwiegende Meinung zur Corona-Krise ist wohl erst einmal realistisch und eindimensional schwarz: Viele Menschen werden sterben, viele Existenzen werden gefährdet oder zerstört, und die Weltwirtschaft geht den Bach hinunter.
Zweifellos werden wir uns irgendwann von dieser Katastrophe erholen, und alles wird wieder seinen „geregelten“ Gang gehen. Wenn die Krise vorbei ist, kann man nach den erforderlichen Aufräumungsarbeiten wieder zum Tagesgeschäft übergehen. Oder — man begreift die Krise tatsächlich als Chance oder als Weckruf oder als eine Art Lackmuspapier oder als Wink mit dem Zaunpfahl durch die Natur, das Schicksal oder das Göttliche. Wie auch immer, man kann aus allem, das nicht so läuft, wie es soll, seine Lehren ziehen, wenn man fortschrittlich denkt und sich nicht einfach nur danach sehnt, in die alten Gleise zurückfallen zu können. Und die Corona-Pandemie zeigt viele Schwachstellen auf, die zum Großteil auf die eine oder andere Weise bekannt, aber nicht unbedingt jedem bewusst waren. Wir können uns mit diesen konsequent auseinandersetzen oder bis zur nächsten Katastrophe wieder zur Tagesordnung übergehen.
Und es ist ja nicht so, dass diese Krise die einzige Katastrophe der letzten Zeit ist. Es gibt weltweit viele weitere alte und neue und meist immer noch schwelende Krisenherde: diverse Finanzkrisen und geplatzte oder zum Platzen anstehende Blasen, marode oder nur rudimentäre Gesundheits- und Rentensysteme, eine immer stärker aufklappende Arm-Reich-Schere, Pseudo-Religionskriege, schwindende Ressourcen, ein vergifteter und vermüllter Planet, geopolitische Machtspiele, die Klimakatastrophe und die Klima-, Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge — ohne Anspruch auf Vollständigkeit. All diesen Problemen ist in ihrem Ursprung ein Element oder besser ein Elementenkomplex gemeinsam.
Man könnte dieses Element z. B. Uneinigkeit nennen, aber das ist nur die Überschrift für eine ganze Sammlung zusammenhängender Schwächen, die alle integral angegangen werden müssen, denn wenn man anfängt, die ganzen Schwachstellen aufzudröseln und isoliert zu bearbeiten, dann wird es nur isolierte und suboptimale Lösungen geben, die von einer maximalen Anzahl an Interessensgruppen kräftig verwässert werden.
Wir müssen uns also zuerst einmal über unseren Problemkern klar werden, und zwar über den gesamten Kern, auch wenn man persönlich nur einen oder zwei Punkte daraus als wesentlich betrachtet. Wenn sich etwas ändern soll, müssen alle an einem großen Strang ziehen, nicht jeder an einem kleinen Einzelstrang. Sicher kann nicht jeder auf allen Ebenen etwas bewegen, aber man sollte bei allem immer das große Gesamtbild im Fokus haben. Die Probleme sind wie erwähnt im Großen und Ganzen bekannt, und wenn man sich wirklich mit ihnen beschäftigen würde, dann wäre man sich dessen bewusst, dass sie alle zusammenhängen. Aber da sie die Verantwortlichen nicht akut schmerzen, werden sie nicht vernunftgemäß angegangen. Erst wenn man sie, wie diesen Virus, nicht mehr beiseite schieben kann, gibt es ein großes Palaver und einen großen Aktionismus, beides automatisch öffentlichkeitswirksam, das Problemloch wird isoliert einigermaßen gestopft, nach Möglichkeit lokal und nur soweit unerlässlich auch global. Aber der zentrale Problemkern wird elegant umgangen.
Und damit wären wir wieder beim Kernkomplex, der da Uneinigkeit heißt, aber auch genauso gut andere Namen haben könnte: Egoismus, Machtgier, Lieblosigkeit, Kapitalismus, Gegeneinander … Um uns die Bedeutung dieses Kernkomplexes näher zu veranschaulichen, könnte es hilfreich sein, die gegenwärtigen Corona-Lage in zwei Versionen zu betrachten: dem realen Ist-Zustand und einem Was-wäre-wenn-Szenario. Die Ausgangslage für beide Szenarien ist der sich ausbreitende Virus und die Notwendigkeit, ihn solange in Zaum zu halten, bis eine Impfung und/oder eine verlässliche Behandlungs- und Heilungsmöglichkeit gefunden ist, was bedeutet, dass die Menschen einander nicht zu nahe kommen dürfen, was wiederum zu einer gewissen sozialen Isolation führt sowie zu einer mehr oder weniger starken Drosselung des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens.
Der Ist-Zustand, also die gegenwärtige Lage, ist geprägt von Zwängen und Grenzen. Viele Betriebe müssen geschlossen werden, was bei vollständiger oder teilweiser Lohnfortzahlung die Firmen, die meist nicht genügend Rücklagen haben, in der Ruin treibt, trotz staatlicher Zuschüsse und günstiger Kredite, die ja wieder zurückgezahlt werden müssen und somit eine langfristige Zukunftsbelastung darstellen. Dies betrifft große wie kleine Firmen, und natürlich gibt es auch hier wieder Profiteure, wenngleich meist eher umständehalber als geplant. Und auch viele Einzelpersonen und Kleinfirmen, die irgendwie mit Veranstaltungen zu tun haben, sei es als Zulieferer, Darbietung oder Inhaltslieferant und etliche andere Berufsgruppen stehen erst einmal ebenso vor einem ungewissen Aus wie die auf Publikum angewiesenen Künstler und anderen Kulturtragenden im weitesten Sinn, die häufig kaum über Polster verfügen. Und manche derjenigen, die Arbeit haben, weil ihre Tätigkeit unverzichtbar ist, werden stärker als je zuvor gefordert. Und dabei kommt wieder mal ans Tageslicht, dass die Bezahlung in diesen Berufsgruppen (z. B. Krankenpflege, Lebensmittelerzeugung und -organisation) geringer ist, als es ihrer Bedeutung entspricht. Krankenhausärzte können zwar über ihren Verdienst nicht klagen, wohl aber über ihre schon vorher oftmals überhöhte Arbeitsbelastung und die aus wirtschaftlichen Erwägungen und Notwendigkeiten oft ungenügende Ausstattung der Krankenhäuser. Anbauer von Obst und Gemüse benötigen saisonale Arbeitskräfte, die meist aus dem Ausland kommen und — zumindest für hiesige Verhältnisse— schlecht bezahlt werden. Wenn diese durch Einreisebeschränkungen ausfallen, wird es schwer, kurzfristig willigen, bescheidenen und qualifizierten Ersatz zu finden.
Unsere Wirtschaft gründet sich darauf, dass viele Dingen produziert und konsumiert werden und der Konsum sich auf einem hohen Level bewegt, weswegen viele Dinge nicht nach hohen Qualitätskriterien produziert werden und die Industrie mit dem Werkzeug der Werbung und Beeinflussung stetig neue Wünsche weckt. Auch diese Wirtschaftszweige leiden durch die Schließung von Geschäften und damit Verkaufsmöglichkeiten.
Weniger betroffen sind die Angestellten der Finanz- und Verwaltungsindustrie. Sie können häufig mit geringen Einschränkungen von Zuhause aus weiterarbeiten und das System am Laufen halten. Und die Kreditindustrie wird sicherlich auch unabhängig von staatlichen Kreditzusagen von der Lage profitieren.
Kurz — es leiden große Teile der ganzen Wirtschaft weltweit, und je ärmer die Länder, desto weniger können sie auch auf dem medizinischen Sektor für ihre Bevölkerung tun, so wie es auch bei AIDS der Fall war und ist, denn die medizinische Ausrüstung kostet viel Geld und bedarf geschulter Bedienung. Und eine konzertierte globale Aktion zur Versorgung aller Menschen gibt es nicht, eher wird im Gegenteil von allen Nationen versucht, möglichst viel Ressourcen für die eigene Bevölkerung zu requirieren, so dass die wirtschaftlich schwachen oder die etwas langsameren Länder noch mehr Probleme haben, mit der Pandemie und ihren Folgen fertig zu werden.
Wir sehen hier also die Schwächen des Systems, das aus dem Uneinigkeits-Komplex hervorgegangen ist. Uneinigkeit bedeutet nicht nur, nicht gemeinsam an einem Strang zu ziehen, sondern auch gegeneinander zu arbeiten und jeder für den eigenen egoistischen Vorteil. Uneinigkeit bedeutet auch, dass man kein Gefühl des Einsseins, der menschlichen Einheit verspürt und somit auch kein Mitgefühl und keine Liebe und kein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Gemeinschaft und damit auch kein Gefühl gegenseitiger Verantwortung, zumindest nicht auf politischer Ebene. Auf der individuellen Ebene sieht es dagegen besser aus. Hier bringt die Krise menschliche, humanistische, christliche Züge zum Vorschein, wenn man von den unvermeidlichen egoistisch-rücksichtslosen Toilettenpapier- und sonstigen Hamstertrollen absieht.
Ein anderes Synonym für Uneinigkeit wäre der Kapitalismus. Dieser ist die Verkörperung all dessen, was Uneinigkeit bedeutet. Man sollte sich hier darüber im Klaren sein, dass der Kapitalismus nicht einfach nur ein Wirtschaftssystem ist, das den Geld- und Warenverkehr regelt, sondern vor allem auch eine Denk- und Seinsweise, die unser ganzes Leben bestimmt oder maßgeblich beeinflusst. Wenn man so wollte, könnte man den Kapitalismus auf das erste Buch Mose, Genesis, der Tora und der Bibel zurückführen, wo Gott den Menschen auffordert, sich die Erde untertan zu machen. Niemand weiß mit Sicherheit, ob Gott tatsächlich dies oder Ähnliches gesagt hat oder ob er überhaupt etwas gesagt hat, aber wenn, dann hat der Mensch das verstanden, was er wollte und diesen Ausspruch sehr kriegerisch und imperialistisch aufgefasst, mit der Folge, dass heute jeder, unabhängig von seiner Religion, eigentlich der Religion des Kapitalismus angehört, in der ein jeder versucht, sich alles und jedes untertan zu machen. Im Kapitalismus dreht sich alles um den Besitz, und weniger um das, was besessen wird. Mehr Besitz ist nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Macht, mehr Prestige und mehr Sex. Und der Kapitalismus ist längst darüber hinausgegangen, der Dagobert Duck unserer Welt zu werden, er bedeutet auch Kinder und (Ehe-) Partner und bezahlte und unbezahlte Sklaven zu besitzen. Man kann sogar den Treueanspruch von Lebenspartnern als Ausdruck des Kapitalismus, als Anspruch auf alleinigen Besitz betrachten. Fast alles, was wir tun, hat einen Bezug zum Kapitalismus, ob uns das nun bewusst ist oder nicht.
Wir haben anfänglich gesagt, das der Kapitalismus den Geld- und Warenverkehr regelt, und das tut er auch, aber nicht und nicht nur um der Waren Willen. Wir sind Teil einer Entwicklung, in der der Warenverkehr nur noch ein notwendiges Übel ist und die Hauptaufmerksamkeit des Kapitalismus dem Geld gilt, das immer weniger an die Warenwirtschaft gebunden ist. In manchen Kommentaren zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise werden diese als weniger gravierend als die der Finanzkrise von 2008 eingeschätzt, was für den Durchschnittsmenschen kaum Sinn macht, denn die Finanzkrise hat die Finanzmärkte und das Bankensystem vielleicht stark erschüttert, während die materiellen Auswirkungen für den Einzelnen längst nicht so schlimm waren, wie wir sie jetzt in der Pandemie erleben, wo wir mit Verknappungen leben müssen und viele Menschen an den Rand ihrer Existenz gedrängt werden.
Wenn man das gesamtwirtschaftlich betrachtet, mag das vielleicht stimmen, aber die Diskrepanz in der Wahrnehmung und den Auswirkungen für den Einzelnen rührt daher, dass dieses Mal der Warenverkehr betroffen ist, während in der Finanzkrise Geld und Waren bereits soweit entkoppelt waren, dass unsere Versorgung nicht gelitten hat. Geld ist heutzutage zunehmend eine Ware für sich, mit der spekuliert wird und die sich auch ohne Zunahme an physischen Waren vermehren kann. Dafür sind die Bitcoins ein beredtes Beispiel, denn diese können nur durch Computerrechenleistung generiert werden, ohne dass es dazu eine Ware gibt, die parallel entstanden wäre. Und auch die ganzen „Finanzprodukte“ gewinnen oder verlieren, bisweilen gänzlich unabhängig von materiellen Ereignissen, an Wert. Der Großteil des Geldes scheint mittlerweile virtueller Natur zu sein, ohne jegliche materielle Basis. Wenn man die börsennotierten Firmen materiell Stück für Stück verkaufen würde, dann könnte man nur einen Bruchteil ihres Börsenwertes erzielen.
Das ist also die gegenwärtige Lage in der Coronakrise, und nun können wir uns mit einer „Utopie“ beschäftigen, die zeigt, wie die Lage im Idealfall alternativ aussehen könnte, wenn wir, also die gesamte Bevölkerung, und nicht nur ein paar vereinzelte Idealisten, diese wollten.
Hierzu könnten wir nochmal zu dem Ausspruch aus dem Buch Genesis zurückkehren, denn diesen kann man durchaus auch anders und weniger kompetitiv verstehen, z. B. „… und nutzt die Ressourcen der Erde weise!“ Denn es gibt immer mindestens zwei Möglichkeiten, etwas zu tun: Ausquetschen und Raubbau oder Pflegen und nachhaltig Wirtschaften. Nun sollte man meinen, dass nachhaltiges Wirtschaften ganz oben auf der Agenda des Kapitalismus stehen würde, denn der Kapitalismus beraubt sich sonst seiner Arbeitsmittel, aber ganz offensichtlich ist dem nicht so. Der Gewinn, und sei er nur kurzfristig, steht ganz oben auf der Liste des Kapitalismus. Und in seiner Philosophie wird sich immer ein neues und lohnendes Betätigungsfeld finden, und im Zweifelsfall verdient er einfach auch an der Beseitigung der von ihm verursachten Schäden. Die Finanzkrise mag zwar eine für diese Branche echte Krise gewesen sein, aber danach ging es der Finanzindustrie besser als je zuvor. Und der Mantra-artig gelehrte Merksatz, dass die Freie Marktwirtschaft, sprich der Kapitalismus, die Versorgung der Menschen automatisch optimieren würde, ist ebenso ein Mythos wie das Trickle-down von den Reichen und der Großindustrie. Davon abgesehen sollte man auch bedenken, dass, auch wenn mittlerweile wahrscheinlich mehr Geld virtuell erwirtschaftet wird als durch reale Arbeit und Produktion, doch der Anteil an realer Produktion nicht zu verachten ist und das Spielgeld für die nachfolgende virtuelle Mehrung liefert. Dazu wird das erwirtschaftete Geld der realen Welt teilweise entzogen. Es bleibt nicht in Umlauf, um das allgemeine Wohlergehen zu fördern, sondern wird, bildlich gesprochen, auf die eine Seite der Welt geschaufelt wodurch auf der anderen Seite ein Mangel entsteht. Man kann letztlich nur reich werden, wenn jemand anders arm wird, wobei auch unser Planet ein Jemand ist. Und so wie die Sache steht, klafft die Schere von Arm und Reich zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Planet immer mehr auseinander.
Wenn wir die vorhandenen Ressourcen weise nutzen würden, dann könnten wir alle ein reiches, wenngleich vielleicht nicht luxuriöses Leben führen. Und wir hätten weniger Probleme, mit den Folgen dieser durch den Coronavirus verursachten Krise umzugehen. Was also lehrt uns nun diese Pandemie?
Da ist zum einen die Erkenntnis, dass der Virus keine Grenzen kennt und akzeptiert, auch wenn Präsident Trump ihn als „ausländischen Virus“ bezeichnet. Diese Erkenntnis ist nicht neu, das hat uns auch schon Tschernobyl vor Augen geführt, und auch der Klimawandel ignoriert sämtliche Grenzzäune.
Das führt zu der Erkenntnis, dass global auftretende Probleme nur global gelöst werden können. Global bedeutet aber, dass die Grenzen, die uns voneinander trennen und die damit verbundenen Macht- und Vormachtansprüche aufgeweicht und verschwinden werden müssen. Sicher wird es anfangs tonangebende und einflussreiche Nationen geben, die eine solche globale Zukunftsagenda vorantreiben, aber diese müssen im Grunde genommen an ihrer eigenen langfristigen Demontage als Global Player arbeiten und rasant zunehmend die Interessen der kleineren, schwächeren und ausgebeuteten Staaten berücksichtigen. Wie Mahatma Gandhi einmal sagte, gibt es genug für jedermann, aber nicht für jedermanns Gier.
In unserer Krise bedeutet globale Zusammenarbeit zum Beispiel, dass man die anstehenden Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf alle verfügbaren Kräfte entsprechen ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten koordiniert verteilt und sich gegenseitig mit neuen Erkenntnissen unterstützt. Bei dieser Bemühung sind die Wissenschaftler weltweit schon ein wenig weiter als die Politiker. Darüberhinaus sollte man weltweit, strategisch verteilt, Zentren aufbauen bzw. ausstatten, die die Kapazität haben, Impfstoffe und Heilmittel, sobald sie entwickelt sind, für alle Menschen weltweit zügig und in ausreichendem Maße zu produzieren.
Dabei tauchen allerdings Probleme auf, die alle mit einer Sache zusammenhängen: dem Geld. Die Einrichtungen kosten Geld und Material (und benötigen zudem geschultes Personal), das kleinere Länder nicht so ohne weiteres zur Verfügung haben. Hier müsste man einen globalen Fonds einrichten, der finanziert oder Mittel aufstockt. Dann gibt es noch Medikamente, die bereits existieren und die damit getestet und zugelassen sind, die jetzt auf ihre Wirksamkeit gegen diesen Coronavirus getestet werden. Sollte sich hier ein geeignetes Mittel finden, dann gehört die zugehörige Formel einem Pharmakonzern. Dieser kann die Preise hochschrauben, wie es etwa bei einem anderen Medikament, dessen Zweitwirkung entdeckt wurde, geschehen ist, oder es sonst als Goldesel oder Druckmittel benutzen, statt es großzügig und günstig zu verteilen und die Formel zur allgemeinen Verfügung zu stellen.
Hier haben wir wieder das alte Kapitalismus-Problem. Die Pharmakonzerne investieren viel Geld in die Entwicklung von Medikamenten, wobei sie vorab nicht wissen, ob die Bemühung erfolgreich sein wird. Das heißt, sie finanzieren auch Fehlschläge, und das auch noch im Wettstreit mit anderen. Da sie auch Gewinne erwirtschaften und an ihre Aktionäre ausschütten müssen, konzentrieren sie sich dabei auf Medikamente für häufige Krankheiten, die darum viel Geld einbringen können. Die Pharmaindustrie als solche, nicht unbedingt all ihre Forscher, hat ihren Fokus also auf dem Verdienen von Geld und nicht auf der Heilung von Krankheiten oder gar auf dem gesundheitlichen Wohlergehen der Weltbevölkerung. Sie versucht sogar Krankheiten und Unpässlichkeiten herbeizudefinieren, um an Medikamenten und Aufbauprodukten verdienen zu können.
Das globale Ideal sieht dagegen anders aus. Man kann unseren Globus als das begreifen, was er ist: eine Einheit. Dieser Globus mag zwar verschiedene Ländergrenzen, ethnische Abgrenzungen oder Glaubensgrenzen aufweisen, aber diese Grenzen sind nur etwas wie Kleidungsstücke, die man wechseln oder umarbeiten kann, die aber unwesentlich sind, denn der Mensch und der Globus mit seiner Menschenfamilie ist unter der Kleidung und unabhängig von ihr immer er selbst — zumindest sollte er sich nicht durch diese definieren. Und als globaler Organismus ist es besser, wenn alle Organe und Zellen im Einklang miteinander arbeiten und nicht jeder rücksichtslos nur seiner eigenen Agenda folgt, sonst kommt es zu Krebs oder Organversagen oder Abnutzungserscheinungen oder eben zu Infektionen, die man nur durch eingespielte und effiziente Abwehrmaßnahmen im gesamten und ansonsten gesunden Organismus schnell und verlustarm bekämpfen kann.
Die heutige Pharmaindustrie ist zwar nicht das Immunsystem unseres globalen Organismus, aber doch so etwas wie der Hausarzt. Allerdings kümmert sich dieser Arzt besonders gerne um reiche Patienten und um die häufigeren und vergleichsweise leichter therapierbaren Übel. Das ist verständlich, weil er auch Mittel zum Leben und für die Behandlung braucht, führt aber auch dazu, dass in unserem Organismus viele Probleme vor sich hin schwelen und ihn als Ganzes krank machen.
Der sinnvolle Ansatz für die Problemlösung und die Gesundung und Gesunderhaltung unseres Gemeinschaftsorganismus wäre, die Pharmaindustrie von ihrer störenden kapitalistischen Komponente zu befreien und die essenziellere hippokratische und humanistische Komponente zur eigentlichen Motivation für ihr Wirken zu machen. Das Pharma- und Gesundheitssystem (zu dem dann auch Ämter und Ärzte gehören) mit seinen Einrichtungen und Mitarbeitern würde von der Menschheit finanziert, würde nicht mehr gegeneinander sondern koordiniert miteinander, unabhängig von der reinen Wirtschaftlichkeit, an allen auftretenden Fragen und Problemen arbeiten (und zusätzlich noch einen Zweig für die aktive Gesunderhaltung und Krankheitsvermeidung etablieren) und könnte so seine ideale Funktion als gesamtmenschliches Immunsystem erfüllen.
Und da es global finanziert wird, wären ärztliche Behandlungen und alle Medikamente grundsätzlich kostenlos. Ein solch fortschrittliches System auch nur zu beschließen ist wahrscheinlich eine gewaltigere Aufgabe als es anschließend umzusetzen. Aber es wäre ein Schritt in die richtige Richtung, nämlich den Abbau des Kapitalismus einzuläuten, denn unser Pharmasystem ist nur symptomatisch für vieles, was auf unserer Welt falsch läuft.
Wir sollten einmal darüber nachdenken, dass alles, was es auf unserer Welt gibt, also alle natürlichen Ressourcen, unabhängig vom Kapitalismus existieren und dass dieser durch seine Prämissen diese Güter schlechtestmöglich verwaltet, indem er sie zum einen nicht gleich und gerecht für alle Menschen gleichermaßen verteilt und zum anderen zusätzlich noch deren verschwenderischen Verbrauch fördert. Auch das ist etwas, was unseren globalen Organismus krank macht. Das muss, wie auch immer, aufhören und einer gemeinschaftlichen Auffassung der Welt und ihrer Ressourcen Platz machen, und das geht nur ohne den Kapitalismus. In einer nicht-kapitalistischen und gemeinschaftlich orientierten Welt wären die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen dieser Coronapandemie zwar sicherlich immer noch spürbar, aber nicht so gravierend und existenzbedrohend und deprimierend.
Der Weg dahin ist durch die vielen am Gesamtwirken beteiligten Egos sicherlich nicht einfach, aber ihn nicht zu beschreiten, den ersten Schritt nicht zu tun, wäre fatal.
Dieser Wandel hat zwei Aspekte, einen politischen und einen individuellen.
Politisch, so werden die meisten Menschen sicherlich sagen, ist das unmöglich. Und da ist etwas Wahres dran. Aber andererseits sind besonders die Politiker findige Köpfe, wenn es darum geht, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, und wenn sie sich, idealerweise mit Rückendeckung durch die Bevölkerung, diesen Wandel in den Kopf setzen, werden sie auch sicherlich Lösungen finden. Das geht sicherlich nicht ad hoc, und das wäre auch nicht empfehlenswert, aber viele kleine Schritte führen auch zum Ziel. Eine Förderung der bereits zaghaft existierenden und noch weitgehend unbekannten Gemeinwohlökonomie wäre sicherlich ein erster möglicher Schritt, die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ein zweiter. Daneben gibt es noch viele andere Schritte, z. B. die Aufwertung aktiv produzierender und gemeinschaftsfördernder und die Abwertung spekulierender Berufe. Und wenn das Thema erst einmal ernsthaft von einer breiten Öffentlichkeit und nicht nur in kleinen esoterischen Kreisen diskutiert wird, dann werden sich viele weitere Schritte und vielleicht sogar ein realisierbarer Fahrplan einfinden.
Dazu gehört aber auch unumgänglich der individuelle Aspekt, denn das Individuum ist die Kernzelle der Gemeinschaft, und ohne einen gesellschaftlichen Konsens ist dieser Wandel keinesfalls machbar, dass er aber machbar ist, zeigt die menschliche Solidarität, die in dieser Krise erblüht und die Bereitschaft Opfer zu bringen. Der erste Schritt für den gesellschaftlichen Wandel ist die Einsicht in seine Notwendigkeit, das Begreifen, dass wir eine Lebensform brauchen, die nicht auf Geld und Gegeneinander beruht, sondern auf dem Miteinander. Wir müssen uns Gedanken machen, wie dieses Miteinander aussehen könnte oder sollte, und vor allem müssen wir uns bemühen, dabei mit gutem Beispiel voranzugehen und nicht auf die nächste oder übernächste Generation zu hoffen, denn diese Generationen lernen von uns. Und wir sollten uns über eines sehr klar sein: Nicht dieser Wandel ist künstlich, sondern unsere gegenwärtige Form des Zusammenlebens. Wir alle waren einmal Kinder und haben zu unseren Eltern und zu allen Erwachsenen aufgesehen — bis wir gelernt haben, dass Erwachsene viel reden, aber dabei nicht immer konsequent sind. Wir haben auf die eine oder andere Weise immer wieder mal auf uns dargelegte Ideale angesprochen, und das ging sehr leicht, weil wir als Kinder von Natur aus gemeinschafts- uns seelenorientiert sind. Sicher haben wir unsere Egoprobleme, aber wir sind eher bereit, das Ego hintanzustellen, wenn wir einem glaubwürdigen und hehren Ideal folgen können. Bei den jüngeren Kindern können wir damit heute schon offene Türen einrennen, während es bei den älteren vom Grad ihrer Desillusionierung und Konditionierung abhängt, wieweit sie eine Gesellschaftsform unterstützen können, die nicht auf Geld und Vorherrschaft aufgebaut ist.
Im Verlaufe unserer gesellschaftlichen Evolution, die ja parallel zur Evolution des Kapitalismus ablief, haben wir uns von Stammesgemeinschaften und Clans zu Kleinfamilien und schließlich zu Einzelgängern entwickelt, was sicherlich die Individualisierung und Bewusstseinsentfaltung gefördert hat, aber mit dem heutigen weiteren Bewusstsein sollte es möglich sein, zu größeren Gemeinschaften zurückzufinden, die auf das bedrückende kleingeistige und normierende Odium früherer Zeiten verzichten und die Individualität ihrer Mitglieder schätzen und fördern.
Wenn wir uns zu solch kleineren Gemeinschaften zusammenfinden, kann man viele Ressourcen einsparen, wenn man gemeinschaftlich und trotzdem vielfältig kocht, Dinge gemeinsam nutzt und Kräfte bündelt. Und wenn jede Gemeinschaft einen politischen Vertreter benennt, kann man regionale, flexible und basisdemokratische Gremien bilden, welche die regionale Produktion steuern und optimieren und aus denen hierarchisch überregionale und immer weitreichendere und parteifreie Gremien bis hin zu einer echten Weltregierung entstehen. Wenn jeder ein Gefühl für seine Verantwortung in der Welt und für sie hat, dann kann man mit einer solchen Struktur alle Probleme lösen.
In einer solchen Welt wäre der Coronavirus immer noch eine Bedrohung, aber da die verfügbaren Ressourcen sich durch ihn nicht ändern und da es durch das gemeinschaftliche Leben irgendwann einmal keinen individuellen Verdienst mehr gäbe, könnte man die wirtschaftlichen Folgen leichter schultern, denn der Virus trifft uns nur deshalb so schwer, weil wir alles mit finanziellen Augen betrachten müssen. Es ist nicht so, dass es einen ernsthaften Mangel an den Gütern des täglichen Lebens gibt, sondern an dem Geld, um für diese zu bezahlen, ohne dass uns dafür eine Schuld trifft. Und die wirtschaftlichen Verflechtungen und Zwänge und Gefahren erlauben es den Staaten nicht, einfach das benötige Geld zu produzieren, bis sich die Lage entspannt hat, was theoretisch möglich wäre, da dies ja ohnehin großteils virtuell geschieht.
Wie auch immer sich die Welt entwickeln wird, der Coronavirus zeigt uns unsere individuellen, gesellschaftlichen und politischen Schwachstellen auf, und wir täten gut daran, nicht nur über kurz- und mittelfristige Ziele nachzudenken, sondern vor allem auch fundiert langfristig zu denken und zu planen, damit wir ein Ziel bekommen, auf das wir uns über die kommenden Generationen hinbewegen können, und das uns eine Hilfe bei der nächsten Krise sein kann.