8. Kapitel – Zukunftspolitik; Abschnitt Kindeswohl

Zusätzlich zu den verschiedenen, eher materiellen Aspekten des Gemeinwohls, gibt es neben den Fragen der Bewusstseinsentwicklung und der individuellen Entfaltung auch noch einen anderen Aspekt, der an der Basis einer gesunden Gesellschaft steht. Die Gemeinschaft, so wie wir sie wahrnehmen, ist ein vergängliches Ding und wie ein Fluss zwar immer da, aber und als solche erkennbar, aber doch jeden Augenblick neu, weil sie sich aus sich stetig erneuernden Elementen zusammensetzt. Dominiert wird der Charakter der Gemeinschaft von den Erwachsenen im Alter von etwa dreißig bis siebzig Jahren, die sich gerne als Rückgrat, Bewahrer und Formgeber der Gemeinschaft sehen. Doch während sie in zunehmendem Alter diesen Fluss verlassen, wird er eigentlich gespeist von den Kindern. Die Kinder von heute sind das Rückgrat und die Formateure der Gesellschaft von morgen.

Jeder weiß das, und trotzdem beschäftigt sich die Politik lieber mit kleinlichen Querelen und macht zugunsten der Kinder nur vergleichsweise wenig Geld locker. Die Erziehung der Kinder von heute bestimmt die Gesellschaft von morgen. Das ist eine Chance und gleichzeitig auch ein extrem kritischer Punkt. Kinder lernen am besten durch das Beispiel, und wahrscheinlich wird sich jeder, der an seine Kindheit zurückdenkt, an die Enttäuschung erinnern, dass man von den Erwachsenen angelogen wurde, dass da eine gewaltige Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft, und dass die Erwachsenen, das Rückgrat der Gemeinschaft, nie ernsthaft vorhatten, die Welt zu einem schöneren Platz zu machen und eine fortschrittliche Zukunft zu garantieren. Und wenn die Kinder dann älter werden, nimmt man ihnen ihre Träume, indem man ihnen sagt, dass sie sich ohnehin nicht verwirklichen lassen, und dass Egoismus, Geld, Macht und der Status quo wichtiger sind. Das Beispiel, das wir ihnen geben, hat nichts mit ihren Träumen und nichts mit unseren alten Idealen zu tun.

Wir wissen, dass die Gesellschaft sich aus den Kindern rekrutiert, und unser jetziges Verhalten wirkt sich formgebend auf die Kinder aus. Die meisten Menschen sind zwar irgendwie unzufrieden, wollen sich aber andererseits auch nicht ändern. Kinder aber sind die pure Verkörperung der Kraft der Veränderung. Deshalb ist es in fast allen Zeiten und Kulturen immer so gewesen, dass in der Kindererziehung großer Wert auf Gehorsam und Autoritätsgläubigkeit und die Bewahrung des Vergangenen gelegt wurde, aber nicht auf selbständiges Denken, Kritikfähigkeit, Spontaneität, emotionale Wärme und Kreativität. Und unser Schulsystem spiegelt dies mit seiner Überbetonung von Faktenwissen und die Integration in das bestehende Gesellschaftssystem wider; emotionale, soziale, integrale, integrative, ganzheitliche, kreative, künstlerische und entfaltungsfördernde Aspekte sind deutlich unterrepräsentiert. Und gerade diese Dinge brauchen wir, denn das technologisch orientierte Bewusstsein, das an den Schulen vermittelt wird, hat schon bewiesen, dass es alleine die wachsenden Krisen nicht bewältigen kann.

Wenn wir eine neue Gesellschaft wollen, dann müssen wir uns um sie bemühen und damit den Kindern ein Beispiel geben, an dem sie wachsen und Hoffnung schöpfen können, und wir müssen ihre Träume ernst nehmen und ihnen bei dem Versuch, sie umzusetzen unterstützend zur Seite stehen.

Wenn ein Kind geboren wird, ist es so abhängig von uns, dass wir zu seinen Sklaven werden. Im Idealfall löst sich diese zwanghafte Beziehung langsam auf, bis das Kind schließlich selbständig und innerlich erwachsen ist. Aber das ist nicht immer der Fall, und in manchen Kulturen mutiert der Status eines Kindes sehr schnell zu dem eines Sklaven; es muss die Arbeit eines Erwachsenen tun und blinden Gehorsam leisten. Und manchmal versiegt die Macht eines Vaters oder einer Mutter auch mit dem Erreichen der Selbständigkeit nicht.

Wenn wir ein Kind in die Welt gesetzt haben, dann haben wir damit auch eine riesige Verantwortung auf uns genommen, für das Kind zu sorgen. Es ist aber nicht unsere Aufgabe, das Kind in die Form zu pressen, die wir für richtig erachten, denn „richtig“ sieht für jeden Menschen anders aus. Jeder Mensch kommt als einzigartiges Individuum mit einzigartigen Begabungen und Nicht-Begabungen auf die Welt und muss seinen ihm eigenen Platz in dieser Welt finden, um ein glückliches und erfülltes Leben führen zu können. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, unseren Lebensstil auf das Kind zu projizieren, so fortgeschritten dieser auch sein mag, sondern dem Kind und werdenden Erwachsenen dabei zu helfen, das ihm innewohnende Potenzial zu entdecken und zu entfalten. Dazu gehört auch, eine geistige, emotionale, vitale und physische Selbständigkeit zu fördern, die es ihm erlaubt, sich als unabhängiges Wesen wahrzunehmen und trotz aller Einflussnahmen, denen wir permanent ausgesetzt sind, seine Entscheidungen souverän und unbeeinflusst zu treffen und ihm gemäß seiner inneren Entwicklung und Reife auch die nötige Entscheidungsfreiheit zu lassen.

Ein Kind hat allein durch die Tatsache seiner Geburt das Recht auf eine eigene, individuelle und weitgehend unbeeinflusste Entwicklung. Dazu gehören auch das Recht auf unversehrte Entwicklung und auf Religionsfreiheit.

Eine unversehrte Entwicklung bedeutet, dass sich Jungen nicht einer barbarischen Beschneidung zu unterwerfen haben, sofern diese nicht medizinisch notwendig ist, denn sie lässt sich nicht wieder rückgängig machen und greift darüber hinaus sehr tief in die persönliche Entwicklung und sexuelle Entfaltung ein. Und das Gleiche gilt für die oft noch barbarischere Genitalbeschneidung von Mädchen und jungen Frauen, durch die sie eines Teils ihrer Menschlichkeit beraubt und wie Besitz, wie Vieh behandelt und degradiert werden.

Religionsfreiheit bedeutet, dass ein Kind zwar über die verschiedenen Religionen informiert werden kann und sollte, aber eine Entscheidung über die Zugehörigkeit zu einer Religion sollte man erst treffen, wenn man ausreichend erwachsen ist und die nötige Reife für eine Entscheidung besitzt, die unter Umständen Auswirkungen auf das ganze weitere Leben haben wird. Religiöse Zwangsrekrutierungen bei der Geburt sind gewiss kein Ausdruck von Religionsfreiheit.

Um eine individuelle Entwicklung zu gewährleisten, muss sich unsere Gesellschaft langfristig in eine Richtung entwickeln, die es den Menschen erlaubt, freie Entscheidungen zu treffen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist sicherlich ein Schritt in diese Richtung, denn es erlaubt mehr Zeit bei der Entscheidungsfindung für einen zukünftigen Beruf, und es erlaubt auch eine Verlängerung der Lern- und Ausbildungsphase.

Und in diesem Zusammenhang muss auch das Bildungswesen gründlich reformiert werden. Eine naturwissenschaftliche Ausbildung ist schön und gut und unerlässlich, aber man darf auch die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass nicht jeder Mensch gleichermaßen dafür Interesse und Begabung hat. Das Gleiche gilt auch für musische, sportliche und wirtschaftliche Ausbildungsrichtungen.

Idealerweise sollte sich die schulische Erziehung und Ausbildung frühzeitig auf die Erlangung sprachlicher Kompetenz (Lesen und Schreiben), sozialer Fähigkeiten (Kommunikation und Empathie), auf integrale Bewusstwerdung (seelisch, mental, vital und körperlich), Ethik und die Entfaltung des kreativen und musischen Potenzials konzentrieren, denn diese Bereiche sind für die Ausbildung eines freien, kritischen, gesellschaftsfähigen und zukunftsorientierten Individuums unerlässlich. Erst auf dieser Basis kann man sich um die Vermittlung einer Übersicht über die verschiedenen Äste vom Baum der Erkenntnis alles Seienden (Gott?, Urknall, Mathematik, Physik, Chemie, Astronomie, Geologie, Biologie, Mensch, Ökologie, Geschichte, Psychologie, Philosophie, Religion, Ethik, Spiritualität, Zukunft, Evolution) bemühen. Über dieses Wissen sollte jeder Mensch verfügen.

Nach der Vermittlung dieses Grundwissens kann man sich in einer dritten Stufe spezialisieren. Dabei kann man aus Kursen wählen, die einen tiefer in eine gewählte Thematik hineinführen, oder welche die Grundlage für eine oder mehrere spätere Berufsausbildungen bilden. Auf diese Weise muss sich jemand, bei dessen künftigen Berufsvorstellungen Mathematik oder Physik keine Rolle spielen oder der für bestimmte Fächer einfach kein Talent hat, nicht  mit diesen abplagen, sondern kann sich auf das konzentrieren, was er benötigt. Und wenn sich das ins Auge gefasste Ziel ändert, kann er die dafür benötigten Kurse jederzeit nachholen und sich weiteres Wissen aneignen. Das bedeutet letztlich, dass es ab dieser dritten Stufe kein klares Klassensystem mehr geben kann, auch was das Alter betrifft, weil die Interessenslagen so unterschiedlich sind und auch ältere Schüler und Erwachsene oder Menschen, die ihre Ausbildung abgebrochen haben, an diesen Kursen teilnehmen können.

Ein solches Schulsystem könnte einen Wandel der Lern- und Arbeitskultur und auch des manchmal eher gespannten intergenerationellen Miteinanders einleiten.

Lernen wäre nicht mehr etwas, das nach der zehnten oder dreizehnten Klasse oder nach dem Studium abgeschlossen ist, sondern das uns lebenslang begleitet. Das trifft zwar in gewissem Umfang auch jetzt schon zu, aber oft nur zwangsweise und widerwillig. Durch das Kurssystem und den flexiblen Zeitplan wird diese starre Abgrenzung zwischen Lernen und Berufsleben aufgeweicht. So bietet sich dann auch die Chance, Lernen zu etwas Positivem zu machen, das man gerne und bewusst das ganze Leben über ausübt.

Natürlich benötigt diese dreistufige Strukturierung der Schulzeit mehr Zeit, aber angesichts der gestiegenen und weiter steigenden Lebenserwartung und der Erweiterung der Lebensarbeitszeit und auch vor dem Hintergrund eines möglichen Grundeinkommens sollte das kein Problem darstellen. Aber auch ohne dieses Grundeinkommen sollte dem Staat deutlich mehr als bisher daran gelegen sein, seinen Bürgern jede mögliche Aus- und Weiterbildung zu ermöglichen und eine Kultur lebenslangen Lernens und Wachsens zu fördern und zu etablieren. Jegliche Bildung sollte grundsätzlich kostenfrei möglich sein und jederzeit wieder aufgenommen werden können. Die Wiederaufnahme von Bildung und die Veränderung der individuellen Interessenslage, des Betätigungsfeldes oder Berufes, die in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit und der Veränderung von Berufsbildern häufiger werden, erfordern geradezu eine flexiblere Bildungskultur. Ein Wechsel des Berufs, auch jenseits der Lebensmitte, sollte kein Tabu mehr sein.

Wenn die Präsenz von Nicht-mehr-Kindern in allen Bildungseinrichtungen zunimmt und die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bemerken, dass auch Erwachsene lernen müssen oder sogar gerne lernen, kann dies dazu beitragen, die Haltung dem Lernen gegenüber positiv zu verändern und die Kluft zwischen den Generationen durch ein Gefühl der Kameradschaft und des Eingebettetseins zu ersetzen. Eine Reform des Bildungswesens kann also sehr positive Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft haben.

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